Lionel Essrog (Edward Norton) entschuldigt sich oft bei den Leuten, mit denen er spricht. Jedes Mal, wenn ihm brüske Satz- und Wortfetzen entwischen oder wenn er zu unkontrollierten Bewegungen ansetzt, schickt er ein eingeübtes «Sorry» hinterher. Zumindest Menschen gegenüber, die mit seinen Ticks noch nicht vertraut sind.
Essrog hat Tourette – und aufgrund seiner irritierenden Beeinträchtigung keine grosse Karriere gemacht. Er ist der Handlanger eines Privatdetektivs (Bruce Willis). Als dieser ermordet wird, klärt Lionel den Tod seines Mentors auf.
Jazz und krumme Geschäfte
Dafür wagt er sich hinein in den politischen Dunstkreis eines machtgierigen Städteplaners (Alec Baldwin), der für seine Bauprojekte ethnische Minderheiten aus ihren Quartieren vertreibt.
«Motherless Brooklyn» spielt im New York der Fünzigerjahre, die Rekonstruktion der Epoche ist aufwändig und durchdacht. Ein jazziger Score begleitet das Geschehen – Jazztrompeten-Star Wynton Marsalis hat einige Tracks beigesteuert. Generell erinnert die Atmosphäre des Films an einen klassischen Film Noir.
Edward Norton an allen Fronten
Edward Norton hatte sich die Rechte am Roman «Motherless Brooklyn» von Jonathan Lethem vor zwanzig Jahren gesichert: Diese Hauptrolle wollte er sich schon damals nicht entgehen lassen.
Über die Jahre wurde der Film dann voll und ganz zu seinem eigenen Projekt. Als Drehbuchautor verlegte er die Story von den Neunziger- in die Fünfzigerjahre. Er übernahm zusätzlich die Produktion und inszenierte sich als Regisseur auch gleich selbst im erträumten Part.
Natürlich birgt eine solche Konzentration der Funktionen auch ihre Risiken – aber im Fall von «Motherless Brooklyn» hat sie zur Folge, dass der Film tatsächlich wie aus einem Guss wirkt.
Der Plot kommt schnell voran, die schauspielerischen Leistungen sind durchs Band stark, der Tonfall bewegt sich stilsicher zwischen ernsten und witzigeren Momenten. Es kommt viel Spannung auf bei dieser Intrige, und man bleibt dran – trotz den fast zweieinhalb Stunden, die der Film dauert.
Trotz Ticks nicht zu viel
Doch da ist noch die Sache mit dem Tourette-Syndrom: Beim Anschauen des Trailers zu «Motherless Brooklyn» konnte einen der Verdacht beschleichen, dass ein gewollt expressiv arbeitender Schauspieler sein Talent etwas gar aufdringlich vorführt, wenn er mit Ticks, Zuckungen und herausgeschleuderten Zwischenrufen arbeitet.
Die schönste Überraschung an «Motherless Brooklyn» ist es jedoch, dass Edward Norton seine Rolle ohne Peinlichkeiten meistert. Er gestaltet seine Figur diskret, vielschichtig, musikalisch – ihr Handycap ist nur einer von vielen Wesenszügen.
Mit diesem Mann streift man gern durch diese Handlung, die von ihrer Konstruktion her übrigens auffällig an Roman Polanskis Neo-Noir-Klassiker «Chinatown» von 1974 erinnert.
Wobei sich «Motherless Brooklyn» diesen Vergleich gut leisten kann: Die Emotionen der Figuren sind hier weit nuancierter herausgearbeitet als in Polanskis Film.
Kinostart: 12. Dezember 2019