Wie die Zeit vergeht! Kaum zu glauben, dass «Promise Me This» – der letzte Spielfilm des Serben – bereits eine Dekade zurückliegt. Danach hat Kusturica nur noch die Dokumentation «Maradona» (2008) vorgelegt, sowie ein Segment für die Kurzfilm-Sammlung «Words with Gods» (2014). Nun startet endlich «On the Milky Road» in unseren Kinos: Ein waschechte Kusturica-Kapriole, die dem Fachpublikum bereits letztes Jahr in Venedig vorgeführt wurde.
Der Welt präsentieren wollte Kusturica seine jüngste Regiearbeit sogar noch früher. Doch zur grossen Enttäuschung des zweifachen Gewinners der Goldenen Palme schaffte es «On the Milky Road» im Frühling 2016 nicht in den Wettbewerb von Cannes. Allerdings nicht, weil der Film nationalistisches Gedankengut verbreitet hätte, wie serbische Verschwörungstheoretiker mutmassten. Sondern ganz einfach, weil Kusturica mit dem Schnitt des über zweistündigen Werks nicht rechtzeitig fertig wurde.
Kusturica kann’s noch immer
Nach langer Wartezeit und wilden Spekulationen konstatieren Kusturica-Kenner aus aller Welt: Wesentlich verändert hat sich die Filmsprache des Serben nicht. Mit «On the Milky Road» variiert der inzwischen 62-Jährige auf der Folie des Balkankriegs vielmehr bekannte Erzählmuster. Wie immer bei Kusturica dreht sich alles um Lust und Liebe; das pralle Leben als Kontrast zum plötzlichen Tod.
Milchmann Kosta ist ein traumtänzerischer Glückspilz. Tag für Tag passiert er auf seinem Esel unversehrt die Frontlinie des Bürgerkriegs. Gegen die Kugeln, die ab und zu an ihm vorbeisausen, schützt er sich mit einem Regenschirm. Ausserdem scheint die gesamte Tierwelt nach seiner Pfeife zu tanzen. Egal ob Falke, Bär oder Schlange – alle sind ihm wohlgesinnt und helfen dem sanften Sonderling, wo sie können.
Im Herzen ist Kosta ein Musiker, der sich vom Krieg die Lebensfreude nicht verderben lässt. Am meisten blüht er auf, wenn er auf volkstümlich-barocken Festen Zymbal spielt. Damit kann der sonst so stille Mann die Frauen bezaubern. Gleich zwei sind ihm verfallen. Zuerst erwählt ihn die Dorfschönheit (Sloboda Micalovic) zum Verlobten. Doch dann verliebt sich Kosta Hals über Kopf in eine geheimnisvolle Italienerin (Monica Bellucci) und brennt mit ihr durch…
Fabelhafter Mix aus Farce, Melodram und Kriegsfilm
Die aus Kusturicas eigener Feder stammende Story von «On the Milky Road» liest sich wie eine saftige Kolportage, ein bunt gefülltes Potpourri exotisch riechender Ethnoklischees. Die opulente Inszenierung reichert die schrille Handlung allerdings mit surrealen Elementen an, die das Ganze veredeln, ja fast schon zum Märchen erheben.
So gelingen Kusturica bisweilen Bildfolgen von makabrer Poesie: Kurz nachdem drei Killer mit Flammenwerfern einen Hof abgefackelt haben, lassen sie sich von einem Schmetterling zum absurden Tanz verführen.
Als Zuschauer bleibt einem angesichts solch schwindelerregender Kaskaden nur das Staunen. Kusturica verbindet die zirkusreifen Szenen mit einer rhythmischen Montage, die er mit dynamischen Balkan-Brass-Kompositionen seines Sohnes stützt.
Auch diesbezüglich ist «On the Milky Road» Kusturica in Reinkultur: Es wird gesungen und getanzt, bis einem die Ohren schlackern.
Ein Milchmann für gewisse Stunden
Allerdings bewegt sich in den 125 Minuten Laufzeit vieles, ohne wirklich bewegend zu sein. Oder anders gefloskelt: Der Weg ist das Ziel in Kusturicas neustem Film, aber dieser Weg ist allzu lang. Vor allem, weil sich Kusturica dabei stets auf vertrautem Terrain bewegt. Dieses künstlerische Auf-der-Stelle-treten lässt die handwerklich tadellose Regiearbeit wie eine Fingerübung wirken – eine selbstverliebte Etüde.
Eitel wirkt «On the Milky Road» letztlich vor allem, weil Emir Kusturica es sich nicht nehmen liess, höchstpersönlich die Hauptrolle des umschwärmten Milchmannes zu übernehmen. Dass sich die Regieikone selbst zum Kinohelden emporstilisiert, dem die Frauen zu Füssen liegen, wäre nun wirklich nicht nötig gewesen.
Schliesslich hat die Milchstrasse grössere Schauspielstars zu bieten als den egozentrischen Regisseur.
Kinostart: 21. September 2017