«Der Mensch verschiebt insgesamt 156 Millionen Tonnen Erd- und Felsmasse pro Tag. Damit ist die Menschheit der entscheidende geologische Faktor unserer Zeit.» Diese beiden Sätze stehen recht lange auf der Leinwand: Man kann sie in Ruhe mehrmals durchlesen.
Die Zahl bleibt vorerst abstrakt, aber schnell wird sie konkreter: Der erste Schauplatz ist eine Baustelle in Kalifornien. Hier plätten zahlreiche Bagger quadratkilometerweise Ödland für neue Einzugsgebiete.
Der Dokumentarfilmregisseur Nikolaus Geyrhalter platziert seine Kamera für statische Einstellungen gerne möglichst weit weg – damit einem die Dimension des Gezeigten noch eindrücklicher erscheint: Wie gigantisch diese Baustelle doch ist, und wie winzig die Menschen darin. Von nahem hingegen filmt er die Personen, mit denen er sich unterhält: Er stellt sie meist ruhig in die Mitte des Bildes und lässt sie in die Kamera reden.
Versetzte Berge
Diese aufgeräumte Bildsprache geht einher mit der Grundthematik des Films: Der Mensch greift ein in die wilde Natur und verleiht ihr eine Form, die ihm passend oder nützlich erscheint. Er nimmt sich von der Erde, was er brauchen kann – und wägt dabei nicht immer die langfristigen Risiken ab.
Geyrhalter zeigt das alles, aber er kommentiert es nicht direkt – das Wort überlässt er vollumfänglich seinen Protagonistinnen und Protagonisten.
Die gefilmten Menschen wiederum definieren sich über ihre eigenen Worte, Geyrhalter blendet weder ihre Namen noch ihre Funktion ein. Aber er befragt sie ganz direkt zu ihrer Arbeit. Auf der Baustelle in Kalifornien etwa meint ein bärtiger Sonnenbrillenträger: «Wenn ich einem Mädchen sage, dass ich davon lebe, Berge zu versetzen, dann glaubt sie mir nicht. Aber es stimmt: Ich versetze Berge.»
Fortschritt muss sein
Von Kalifornien geht es zum Tunnelbau am Brenner, später nach Ungarn und an weitere Orte, an denen Leute im grossen Stil ins Gestein eingreifen. Geyrhalters Fragen kreisen immer wieder um dieselben Themen: Wie fühlt es sich an, wenn man sich die Erde untertan macht? Was für ein Verhältnis hat man zur Natur, wenn man berufshalber damit beschäftigt ist, sie zu bezwingen? Und wo beginnt die Ausbeutung?
Die Antworten sind differenziert, geistreich – und kritisch. Man spürt viel Stolz bei den Sprechenden, zum Teil aber auch Bedenken: «Wir müssen hoffen, dass die Natur mitspielt», sagt etwa ein Tunnelarbeiter. Anderswo heisst es: «Wenn ich es nicht mache, dann macht es ein anderer.» Mehrmals hört man auch: Die Weltbevölkerung wächst halt – sie braucht Platz, sie braucht Rohstoffe, sie braucht Warentransport. Alles andere wäre fortschrittsfeindlich.
Zum Schluss zu viel
«Erde» ist ein brillanter Film, so lange er von diesen Konflikten erzählt, von dieser komplexen Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur. Aber Geyhalter spannt den Bogen noch weiter: In der letzten halben Stunde schildert er die Rückführung von radioaktivem Müll in Deutschland und zeigt Personen in Kanada, die ihren Lebensraum wegen einer Ölgewinnungsanlage verloren haben.
Auch diese letzten beiden Teile sind eindrücklich und haben ihren Platz in der Logik des Films. Aber die damit angeschnittenen Themen bringen nochmals völlig neue, happige Kontroversen mit sich und lassen den sonst grossartigen Film zum Schluss etwas überladen wirken.
Kinostart: 5.9.2019