Erster Schultag – das ist immer ein grosses Ereignis für Kinder, die sich stolz mit ihrem neuen Schulsack für das Foto präsentieren.
Auch für Albiana, Chloé, Louis, Léon und Kenza kommt der erste Schultag. Sie alle sind etwa fünf Jahre alt. Und an ihrem ersten Schultag sind ihre Eltern wohl nervöser und aufgeregter als die Kinder selbst.
Albiana und Chloé haben eine genetisch bedingte Beeinträchtigung, Louis und Léon sind stark autistisch und Kenza kann – ausser weinen und lachen – sich noch gar nicht artikulieren und ist motorisch stark eingeschränkt.
Lernen, Schüler zu sein
Dennoch werden all diese Kinder nun zur Schule gehen. Die Lehrerin formuliert das Lernziel des ersten Schuljahres: Die Kinder sollen lernen, Schüler zu sein. Zusammensitzen, still sein, wenn ein anderes Kind etwas macht, zuhören, sozial interagieren, überhaupt kommunizieren.
Winzige Fortschritte
Zu Beginn des Schuljahres und des Films scheint das eine fast unlösbare Aufgabe zu sein. Zu unterschiedlich scheinen die Behinderungen und die Bedürfnisse der Kinder zu sein, zu intensiv der Betreuungsaufwand jedes einzelnen. Nach und nach aber gibt es winzige Fortschritte, kleine Veränderungen.
Léon, der nie gesprochen hat, sagt ab und zu ein Wort. Louis fängt an, auch in der Schule zu essen, Albiana kann eine Treppe runtersteigen, ohne sich herunterzustürzen. Cléo formuliert Fragen, Kenza reagiert auf Musik.
Nah, ohne voyeuristisch zu sein
Mit viel Fingerspitzengefühl führt Fernand Melgar seine Kamera, ist manchmal ganz nah bei den Kindern und ihren Betreuerinnen. Und bei den Eltern, die ihre Sorgen, Ängste, ihre schwierigen Geschichten erzählen.
Der Film schafft eine sehr intime Nähe zu den Protagonisten, ungefiltert, ohne je Mitleid heischen zu wollen oder voyeuristisch zu sein.
Interesse für Menschen am Rande der Gesellschaft
Melgar, der sich dem Direct Cinema verpflichtet fühlt, jenem Kino, dessen Kamera immer und unvermittelt dabei ist, dessen Dramaturgie sich nährt aus den Abläufen der gefilmten Vorgänge.
Ihn interessieren Menschen am Rande der Gesellschaft, die er mit seinen Filmen mitten in die Gesellschaft herein holt: Flüchtlinge in «La Forteresse» und «Vol Spécial», Menschen ohne ständiges Obdach in «L’abri».
Immer bringt er das Publikum dazu, über Zuschreibungen und bestehende Zustände nachzudenken. Darüber, was normal ist und was wir als normal erachten.
Vom Wunsch, normal zu sein
Im Film «À l’école des philosophes» gibt es einen interessanten Moment dazu: Die Mutter von Albiana spricht mit den Lehrerinnen darüber, dass ein Verwandter in der Familie herum erzählt habe, Albiana sei nicht normal. Sie weint dabei und sagt, für sie sei Albiana ein ganz normales Kind.
Melgar lässt die Szene aber nicht so stehen, er schneidet auf die Sitzung der Lehrerinnen, in der sie darüber sprechen, ob das denn wirklich gut sei, dass die Mutter so darauf beharre, ihr Kind sei normal.
Denn ein «normaler» Alltag, eine normale Erziehung oder Schulbildung, das ist mit Albiana, die besondere Förderung braucht, nun doch nicht möglich.
Und dennoch gehen diese Kinder «normal» zur Schule. Und die Eltern lernen loszulassen, Verantwortung abzugeben und werden belohnt – was zu Beginn noch Bestrafung ist – mit freier Zeit.
Ein berührender Film
Der Film ist dort grossartig, wo er vermitteln kann, wie winzige Fortschritte riesengross sein können. Und er berührt am meisten, wenn ich als Zuschauerin – wenn auch nur im Ansatz – verstehe, was diese Menschen, Lehrerinnen und Eltern leisten, damit diese Kinder in ein soziales, gesellschaftliches Leben inkludiert werden.
Der Vater von Kenza erzählt, wie er und seine Frau vor Glück geweint haben, als Kenza mit zwei Jahren zum ersten Mal überhaupt geweint habe. Es war die erste Gefühlsregung, die sie von ihrem Kind gesehen haben.
Am Ende des ersten Schuljahres und des Films «À l’école des philosophes» wird Kenza lachen, sich zur Musik mitbewegen und sogar selbständig sitzen können.
Sendung: Radio SRF Kultur, Kultur Aktualität, 26.1.2018, 07.20 Uhr.