Kurzfilme bringen Dinge auf den Punkt. Etwa die irre, bloss knapp vier Minuten lange Montage «Who Are We?». Der britische Filmer John Smith hat sie aus einer BBC-Publikumsrunde vor der Brexit-Abstimmung gebastelt.
Die Sendung, ähnlich aufgebaut wie die «Arena», beginnt zivilisiert mit dem Votum einer distinguierten Lady. Aber bald schneidet Smith nur noch rhythmisierte Schlagworte aneinander. Der Kurzfilm hämmert die Absurdität einer zweigeteilten Nation auf die Leinwand.
Eine gespaltene Nation?
Die Zweiteilung scheint eine britische Eigenart zu sein. Zum traditionellen Englandbild gehört das Gegenüber von der Herrschaft «upstairs» und den Bediensteten «downstairs». Dazu kommt die historische Abgrenzung von Lords und Commoners, die politische von Tory und Labour, und die von «Working Class» und Kapitalisten.
Viele der gesellschaftlichen Verwerfungen, die zum Brexit führten, seien schon lange vorhanden, findet John Canciani, Leiter der Kurzfilmtage Winterthur. Verwerfungen, die schon lange im britischen Filmschaffen gespiegelt werden.
Realismus an der Küchenspüle
Mit neun Kurzfilmblöcken unter dem Titel «This Is Britain» blenden die Kurzfilmtage daher über 50 Jahre zurück. Etwa in die 1950er-Jahre, als das britische «Free Cinema» das Klassenbewusstsein auf die Leinwand brachte. Es zeigte die Arbeiterklasse im Stil des sozialen Realismus, des sogenannten «Kitchen Sink Realism».
Damals waren auch die beiden Schweizer Alain Tanner und Claude Goretta in London. Ihr Kurzdok «Nice Time» wird in Winterthur auch gezeigt.
Klasse ist mehr Thema als Herkunft
Als Angehörige einer ehemaligen Kolonialmacht hätten die Briten in der Regel viel weniger über Migration diskutiert als über Klassenbewusstsein, sagt Festivalleiter John Canciani. Erst mit der Brexit-Bewegung sei die Einwanderung ähnlich heftig thematisiert worden wie im restlichen Europa.
Viele der Kurzfilme im «This Is Britain»-Programm bestätigen das. «Diversity» und fliessende kulturelle Grenzen gehören genauso zu den britischen Kurzfilmen der letzten 50 Jahre wie das stereotype Klassenbewusstsein.
Das britische Kino lebt davon und spielt damit, von «The Full Monty» bis zu «Four Weddings and a Funeral». Mit den Kurzfilmen von der Insel lasse sich vieles geraffter zeigen, sagt John Canciani. Denn sie folgen mehr oder weniger den gleichen thematischen Linien und repräsentieren auch ästhetisch jeweils ihre Zeit.
Jung, weiblich oder lustig
Der eingangs erwähnte Kurzfilm von John Smith ist einer von mehr als 50 Kurzfilmen aus dem diesjährigen Programmschwerpunkt der Kurzfilmtage Winterthur. Jeder Block der Reihe «This is Britain» umfasst zwischen fünf und acht britische Kurzfilme, thematisch gegliedert.
Da gibt es das Programm «The Kids Are Alright», das vor allem auf Kinder und Jugendliche fokussiert. «The Female Gaze» stellt den weiblichen Blick ins Zentrum. «You'll never walk alone» zeigt, was die Briten hin und wieder doch zu einen vermag – sei es Fussball, Nationalismus oder sogar Patriotismus.
Das ist immer wieder auch sehr vergnüglich. Ganz deutlich macht das der Kurzfilmblock «The Silly Side of Life», welcher den britischen Humor herausstellt.
Einladung zur Zeitreise
«This is Britain» ist ein kuratorischer Glücksfall für die Kurzfilmtage Winterthur. Einerseits ist mit dem anstehenden Brexit das Interesse hoch. Andererseits eignet sich der Kurzfilm wie keine anderes Medium für eine temporeiche Zeitreise von den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart. Von knallhart klassenkämpferischen Kurzfilmen bis zur kulturell diversifizierte Sozialpoesie von Ayo Akingbades «Tower XYZ» (2016) .