Das Wichtigste in Kürze
- Seit dem gescheiterten Putsch im Sommer 2016 wurden in der Türkei über 100'000 Staatsangestellte, darunter 8000 Professorinnen und Dozenten, entlassen.
- Manche wurden auch aus den Wohnungen vertrieben und suchten bei Freunden und Verwandten mit ihren Familien Unterschlupf.
- Einige verkauften ihre Autos, um Winterkleidung zu kaufen. Andere eröffneten ein Café und halten sich damit über Wasser.
Der Professor an der Bar
Eigentlich hätte es ein gemütlicher Start werden sollen: Ulas Bayraktar ist schon vor 9 Uhr im Café Kültürhane. Er will putzen, bevor die Gäste um 10 Uhr kommen. Mit dem iPad steuert er die Musikanlage. Heute Morgen wählt er Jazz.
Kaum hat Bayraktar die ersten Quadratmeter des Parketts geschrubbt, hält ein Minibus auf dem kleinen Parkplatz vor dem Café Kültürhane. Gegen 20 Senioren strömen zielstrebig die Treppen hinauf auf die Veranda des Cafés.
Ulas Bayraktar schaut verwundert, geht dann lachend auf die Gruppe zu. Sie hätten heute ihre Klassenzusammenkunft, sagt eine Dame mit blonden Dauerwellen. «Wir wollten unbedingt das Café kennenlernen.» Die pensionierten Ingenieure studierten in den 1970er-Jahren an der gleichen Universität.
Solidaritätsbesuche
Noch ist kein Tee gekocht, die Böreks – die Teigtaschen mit Spinat oder Käse – sind noch im Ofen. Auch Kollege Deniz ist noch nicht hier. Ulas Bayraktar rotiert, setzt in der Küche Teewasser auf, sucht nach sauberen Teegläsern und räumt in Windeseile den Geschirrspüler aus.
Die Senioren stört das alles nicht. Neugierig inspizieren sie das Café, machen Selfies vor den Regalen mit den über 5000 Büchern, die einst in den Universitätsbüros oder den Privatbibliotheken von Akademikerinnen und Dozenten standen. Täglich kommen neue Werke aus dem ganzen Land hinzu.
Die Dame mit der Dauerwelle sagt, sie seien gekommen, um das Kültürhane zu unterstützen. Sie hätten in der Zeitung gelesen, dass die entlassenen Professoren nun ein Café führten.
Kündigung online
Bayraktar ist Politologe und war bis im Frühling Professor an der Universität Mersin. Er wurde entlassen, weil er eine Online-Petition unterschrieben hatte, die eine friedliche Beilegung des Kurdenkonfliktes forderte und die türkische Regierung kritisierte.
Damit – so die politisierte Justiz – unterstütze er Terrorismus, und das gehöre bestraft. Die Entlassung erfolgte per Dekret, online.
Auf dem Erlass waren auch die Namen von 20 Kollegen der gleichen Universität. Zwei von ihnen haben mitgeholfen, Kültürhane zu gründen: Die Ökonomieprofessorin Ayşe Gül Yılgör und Galip Deniz Atinay, Dozent für Filmwissenschaft.
In der gleichen Verfügung wurde den Akademikern auch beschieden, dass sie keine Rekursmöglichkeiten haben und ihre Reisepässe annulliert worden seien.
Getrennt für unbestimmte Zeit
Nachdem die Senioren wieder in die Minibusse eingestiegen sind, setzt sich Ulas Bayraktar an einen Tisch, der statt mit einer Nummer mit einem Namen angeschrieben ist.
Alle zehn Tische auf der Veranda tragen die Vornamen von ins Exil getriebenen Freunden. An einem klebt der Name Bediz.
So heisst die Frau von Ulas Bayraktar. Die Soziologin war in Deutschland, als sie geschasst und ihr Pass für ungültig erklärt wurde. Das war im Frühling. Seither hat sich das Ehepaar nicht mehr persönlich getroffen. Er steckt in der Türkei fest, sie kann den Schengenraum nicht verlassen. Dank einem Stipendium schreibt sie im Moment an ihrer Habilitation.
Ziviler Tod
Ulas Bayraktar freut sich sehr über Besuche wie den der Senioren. Auch Studierende kommen oft, ältere Menschen, religiöse und sekuläre, und Kinder haben eine eigene Leseecke. Mersin sei eine liberale Stadt.
Hier habe die Partei von Präsident Erdogan keine Mehrheit. Darum würden die Entlassenen praktisch nicht ausgegrenzt und könnten sogar ein Café führen.
Er weiss von Kollegen in anderen Städten, die wie Aussätzige behandelt werden. Ein Projekt wie das Kültürhane wäre vielerorts undenkbar. Kunden würden es nicht wagen, in das Café zu kommen.
Zudem gibt es kaum Arbeitgeber, die eine entlassene Person anstellten. Denn, so die Rhetorik von Präsident Erdogan, es sei einerlei, ob einer ein Terrorist mit einer Waffe sei oder mit einem Schreibstift.
Bayraktar kennt Berufskollegen, die ihr Auto verkaufen mussten, um Winterkleider für die Familie zu kaufen. Viele wurden aus ihren Dienstwohnungen gejagt und mussten zu Verwandten ziehen, damit sie nicht auf der Strasse landeten. Diese Säuberungswellen haben Polizisten, Professorinnen, Ärztinnen, Lehrer, Richterinnen, Geschäftsleute, Beamte erfasst.
Oase der Hoffnung
«Was hier abgeht, ist ein politisches und soziales Erdbeben», sagt der Politologe Bayraktar. Seine akademische Karriere wurde dadurch blockiert. Doch er sei stolz, dass es ihnen gelungen ist, in solch kurzer Zeit ein wichtiger Ort für viele ganz unterschiedliche Menschen zu werden. «Kültürhane ist eine Oase, in der die Hoffnung keimen kann und vielleicht eines Tages gross und stark wird.»
Vielleicht verdorre die Saat aber auch, sagt Bayraktar nachdenklich. Er und seine Kollegen nähmen sich aber ein Vorbild an den Bauern: «Die können auch nicht einfach ihr Land verlassen, wenn es ihnen nicht gibt, was sie erwarten.»
Sendung: SRF 2 Kultur, Kontext, 4.12.2017, 9.02 Uhr