Schweizer Uhren gelten als hochwertige und solide Güter. Die Schweiz selbst als ein Hort der Sicherheit und Stabilität. Und doch waren es ausgerechnet Schweizer Uhrmacher, die Ende des 19. Jahrhunderts im Zentrum des internationalen Anarchismus standen.
Saint-Imier – ein Zentrum der Globalisierung
Allen voran die Uhrmacher in Saint-Imier. Ende des 19. Jahrhunderts war die Uhrenstadt im Jura ein Zentrum des internationalen Anarchismus. Das hing mit technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zusammen – und weil Saint-Imier ein Zentrum der Globalisierung war, erklärt Florian Eitel. Der Historiker am Neuen Museum Biel hat eine Studie zu den anarchistischen Uhrmachern in Saint Imier erarbeitet.
Saint-Imier war eine hochmoderne Stadt. Uhrmacher waren keine Handwerker mehr, die in kleinen Werkstätten arbeiteten. Sie waren in Fabriken tätig. 80 Prozent der Menschen in Saint-Imier arbeiteten in der Industrie, damit war die Gemeinde im Jura eine Spitzenreiterin der Industrialisierung in der ganzen Schweiz.
Die Industrialisierung und internationale Vernetzung der Welt veränderten das Leben der Stadt. Der Konkurrenzdruck wuchs, ebenso das Tempo. Viele Arbeiter und Arbeiterinnen fühlten sich verunsichert. Anarchismus war eine Antwort auf diese Entwicklungen.
Im September 1872 trafen sich Arbeiter aus Spanien, Italien, Frankreich, den USA und der Schweiz im Hôtel de la maison de Ville in Saint-Imier. Aus der Anarchisten-Zusammenkunft entstand schliesslich die «Antiautoritäre Internationale» .
Internationaler Ideen-Austausch
So wie Güter um die ganze Welt transportiert wurden, so wurden auch Ideen international ausgetauscht. Anarchistische Ideen aus Frankreich und Russland gelangten in den Jura.
Doch was ist eigentlich Anarchismus? «Der Anarchismus ist eine politische Theorie, die gewisse Parallelen zum Sozialismus hat», erklärt Florian Eitel. Die Anarchisten träumten, ähnlich den Kommunisten, von einer Revolution. Diese Revolution sollte bestehende Machtverhältnisse abschaffen. Das galt übrigens auch für das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen.
Nach der Revolution sollten freie Gemeinden entstehen, weltweit miteinander vernetzen sind. So sollte ein internationales Netzwerk aus lokalen Strukturen entstehen.
Anarchismus als Spielform des Liberalismus
Anarchismus wurde in den 1870er-Jahren in der Schweiz nicht negativ gesehen. Die Schweiz begriff sich damals als liberal und vor allem als antimonarchistisch. Anarchistische Ideen wurden nicht als bedrohlich empfunden.
Das änderte sich erst mit der Entstehung der Nationalstaaten. Die Idee von der Nation liess sich nicht mit der anarchistischen Vorstellung von lokalen Strukturen verbinden.
Florian Eitel beschreibt in seinem Buch, wie sich die anarchistischen Gruppen im Jura entwickelten und wie stark sie mit internationalen Gruppen verbunden waren. Und er zeigt, dass die jurassischen Anarchisten auch von technischen Errungenschaften profitierten: Druckereien und Eisenbahnen ermöglichten es ihnen, Zeitungen und Flugschriften herauszugeben und mit Anarchisten in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten in Verbindung zu stehen.
Utopie «Globalisierung von unten»
«Die Anarchisten wollten versuchen, mit den Mitteln der Globalisierung eine eigene Welt aufzubauen. Sie wollten eigentlich eine Art alternative Globalisierung – von unten nach oben», so Eitel.
Anarchismus als Globalisierung von unten – das ist immer eine Utopie geblieben. Die Idee aber ist im Jura noch heute populär.