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Eine Bildmontage mit einer Büste von Aristoteles und Gendersymbolen und einem Regenbogen.
Legende: Aristoteles war der Meinung: So wie eine Ärztin anhand konkreter Fälle ihre medizinische Urteilskraft schult, schulen auch wir unsere moralische Urteilskraft. Camille Scherrer / Bildmontage / Portrait: Wikipedia

Aristoteles über die Moral Übung macht den Feministen

Für Aristoteles war klar: Ein Rassist oder Sexist ändert sein Verhalten nicht von heute auf morgen. Moral braucht braucht vor allem eines: Übung.

Ja, was denn nun? Soll ich der Kollegin die Tür zum Sitzungszimmer aufhalten oder besser nicht? Darf ich sie während der Sitzung unterbrechen? Und was sagen wohl meine gespreizten Beine? Fragen über Fragen.

Auch beim Mittagessen: Mit oder ohne Fleisch? Regional oder saisonal? Und wie war das mit dem Schokokuss: Darf man den jetzt noch essen? Und das Feierabendbier in der «Colonial-Bar»?

Aristoteles, Rassist und Sexist

Die Moral, sie lauert überall. Manche sprechen gar vor «Tugendterror». Doch mit Tugend hat das wenig zu tun.

Das wusste schon Aristoteles. Der war zwar ein Rassist, ein Sexist und ein Fremdenfeind. Wie die meisten seiner Zeitgenossen. Aber er hatte ein paar gute Gedanken, die uns helfen, in moralischen Zeiten einen kühlen Kopf zu bewahren.

In seiner berühmten Schrift «Nikomachische Ethik» vertritt Aristoteles die Ansicht, Moral sei eine Frage der inneren Haltung, des Charakters. Der gute Mensch neige von sich aus dazu, das moralisch Richtige zu tun.

Mehr noch: Er tue es gerne. Moral: nicht Terror, sondern Teil eines glücklichen Lebens. Um dahin zu kommen, braucht es nach Aristoteles vor allem eines: Übung.

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Moral braucht Zeit und Übung

Sein Lehrer Platon dachte noch: Wer das Gute erkannt hat, der tut es auch. Für Aristoteles dagegen ist klar: Erst die Übung macht den Meister. Der Rassist oder Sexist wird sein Verhalten nicht von heute auf morgen ablegen. Moral braucht Zeit und Übung. Und vor allem: Urteilskraft. Diese hilft uns, im konkreten Fall die richtige Entscheidung zu treffen.

Allgemeine moralische Prinzipien lassen uns im Alltag nämlich oft im Stich: Was heisst es denn, in einer konkreten Situation «gerecht», «tolerant» oder «respektvoll» zu sein? Wann ist ein Verhalten «charmant», wann «sexistisch»?

Selbst die beste Absicht und der beste Charakter schützen uns nicht davor, sexistisch oder rassistisch zu sein. Auch moralische Regeln helfen hier nicht wirklich weiter. Im Gegenteil: Ohne Urteilskraft laufen wir Gefahr, moralische Regeln zu verabsolutieren oder sie auf moralisch bedenkliche Weise anzuwenden. Etwa, indem wir massenhaft Statuen und Nacktbilder niederreissen oder die Musik von Michael Jackson boykottieren.

Kurz und knapp: Aristoteles

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Legende: wikimedia / The Yorck Project

Aristoteles war Philosoph und Universalgelehrter, lebte im 4. Jh. v. Chr., mehrheitlich in Athen, unterrichtete Alexander den Grossen und schrieb über Fragen der Physik, der Biologie, der Psychologie, der Logik, der Metaphysik, der Politik ebenso wie der Poesie.

Er war Schüler Platons und gründete später ein eigenes Gymnasium. Seine Schrift «Nikomachische Ethik» gehört zu den einflussreichsten Texten der Geistesgeschichte, bis in die Gegenwart. Darin geht es um das gute und gelingende Leben (eudaimonia), um die Selbstentfaltung des Menschen, um Formen der Lust, um Tugenden des Charakters ebenso wie des Denkens, um Gerechtigkeit, um Freundschaft und den Wert des Philosophierens.

Die Schrift gilt als Grundstein der so genannten «Tugendethik». Moralische Tugenden sind nach Aristoteles Charakterzüge in der Mitte zwischen zwei Extremen: So befindet sich der Mut in der Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit, die Grosszügigkeit in der Mitte zwischen Verschwendung und Geiz.

Immer wieder tolerant und mutig handeln

Wie aber schulen wir unsere moralische Urteilskraft? Wie werden wir zu besseren Menschen? Aristoteles meint: Indem wir es versuchen. Immer wieder. Wir werden tolerant und mutig, indem wir immer wieder tolerant und mutig handeln.

Durch wiederholtes Verhalten entsteht eine feste Haltung. Die gute Absicht wird allmählich zum Charakterzug. So wie eine Ärztin anhand konkreter Fälle ihre medizinische Urteilskraft schult, so schulen auch wir unsere moralische Urteilskraft.

Moral ist also eine Frage des Charakters, ebenso wie der Urteilskraft. Beides auszubilden braucht Übung und Zeit. Es sind diese Einsichten von Aristoteles, die uns helfen können, wenn wir demnächst wieder hitzige Debatten führen über Wörter wie «Mohrenkopf», «Manspreading» und «Mikroaggression». Aristoteles plädiert für Geduld anstelle von Eifer und für eine Prüfung des Einzelfalls anstelle von starren Prinzipien.

Bleibt nur die Frage: Woher weiss ich, wer wirkliche Urteilskraft besitzt und wer nicht? Können Frauen besser beurteilen, ob ich ihnen die Tür aufhalten soll oder nicht? Und wenn ja, welche Frauen? Und: Bin ich als weisser, heterosexueller Mann überhaupt in der Lage, die Perspektive einer schwarzen, lesbischen Frau zu verstehen?

Ich weiss zwar nicht, was der alte, weisse Mann namens Aristoteles auf diese schwierigen Fragen geantwortet hätte. Ich fürchte aber: nichts Gutes. Halten wir uns also an seine guten Gedanken. Denn auch bei alten, weissen Männern findet man bisweilen solche.

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