«Wie gern würde ich jetzt Brot essen. Brot, Brot! Ich spüre die Schwäche im ganzen Körper. Meine Beine sind schwer, die Knie schwach.»
Diese Sätze stammen von Jura Rjabinkin, einem Schuljungen. Er ist einer der rund drei Millionen Menschen, die 1941 in Leningrad – dem heutigen St. Petersburg – leben und im September von der deutschen Wehrmacht eingekesselt werden.
Die Blockade dauert fast 900 Tage. Über eine Million Frauen, Männer und Kinder sterben – an Hunger, Kälte, Krankheiten und an den Bombardements der Deutschen.
Jura Rjabinkin ist einer der Überlebenden der Leningrader Blockade.
Dokumentation des Grauens
Von ihren Erinnerungen erzählt das so genannte «Blockadebuch» der beiden sowjetischen Autoren Daniil Granin und Ales Adamowitsch. Sie befragen in den 1970er-Jahren Zeitzeugen und bringen deren Schilderungen des Schreckens 1979 als Buch heraus.
Das Werk bildet damals einen Meilenstein in der sowjetischen Geschichtsschreibung zur Blockade. Das bisher einseitig heroisierte Bild der Verteidigung Leningrads wird korrigiert: Einfache Menschen erzählen in ihren Worten vom unermesslichen Leid, das sie durchlitten haben.
Bei seiner Erstveröffentlichung darf das Blockadebuch allerdings nicht in seinem vollen Ausmass erscheinen: Die Zensur beschneidet etwa Darstellungen, welche die Privilegierung der Parteikader schildern, die es auch im Kessel von Leningrad gegeben hat.
Auch dürfen die deftigsten Schilderungen des Hungerns und Sterbens nicht erscheinen. Sie gelten in der damaligen Zeit noch immer als «unpatriotisch».
Der unzensurierte Bericht
Erst 2014 erscheint in St. Petersburg das Blockadebuch erstmals in seiner ungekürzten Fassung. Nun liegt diese in deutscher Übersetzung vor.
Die Lektüre lässt den Atem stocken und ist bisweilen unerträglich. «Sie haben die Berge von Toten nicht gesehen, die in unseren Waschhäusern, unseren Kellern, auf unseren Höfen lagen», sagt eine Überlebende.
Eine andere berichtet, dass man mit den Beerdigungen nicht mehr nachgekommen sei: «Sie bestatten jetzt alle in einem gemeinsamen Grab, ohne Särge aufeinandergeschichtet. Massengräber.»
Stimmen des Leids
Zwar erzählen die Zeitzeugen immer auch wieder Ähnliches. Und doch ist das Ähnliche niemals gleich.
So nagt etwa der Hunger in jedem Menschen anders, treibt ihn auf anderem Weg in die dumpfe Verzweiflung, an den Rand des Wahnsinns – und oft in den qualvollen Tod.
Die Berichte erzählen vom alltäglichen Grauen in der abgeriegelten Stadt. Aber nicht nur: Immer wieder ist auch von der menschlichen Solidarität die Rede, welche die Ohnmacht zwischen den Eingeschlossenen entstehen lässt.
Historisch einmalig
Das im Blockadebuch dokumentierte Geschehen war ein Genozid mit Ansage: Hitler entschied sich dagegen, die Stadt zu erobern – er wollte sie aushungern, weil es keine Überlebenden geben sollte.
Überlebende hätte man versorgen müssen, was in den Augen der Nazistrategen einer Verschleuderung wertvoller Ressourcen gleichgekommen wäre.
Dieser Zynismus bei der Einkesselung einer Stadt ist historisch wohl einmalig. Dennoch lässt das Blockadebuch auch an das Leid der Menschen in eingeschlossenen Städten während moderner Kriege denken – im ehemaligen Jugoslawien etwa oder in Syrien.
Gerade dies macht die Lektüre des Blockadebuchs heute so dringlich.