Für Ärztinnen und Ärzte gehören diese Fragen zum Krisenalltag: Wem sollen sie helfen, wenn die Ressourcen begrenzt sind? Der jungen Mutter statt der alten Witwe? Haben wichtige Politiker Vorrang?
Beides sei diskriminierend, meint die «Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften». Weder das Alter eines Patienten noch seine gesellschaftliche Stellung darf eine Rolle spielen. Entscheidend sei, dass jene Patienten bevorzugt werden, die am meisten von einer Intensivbehandlung profitieren. Das sind in der Regel jüngere Menschen, aber nicht immer.
Zudem sollen möglichst viele Menschenleben gerettet werden. Wenn man fünf Menschenleben retten kann, einzig dadurch, dass man eine andere Person sterben lässt, dann soll man das tun. Aber stimmt das? Wie kann man solche Entscheide um Leben und Tod begründen?
Das Strassenbahn-Dilemma
Die Philosophie beschäftigt sich seit längerem mit solch heiklen Fragen. Berühmt geworden ist das moralische Dilemma der Strassenbahn, das sogenannte «Trolley Problem».
Stellen Sie sich vor, eine Strassenbahn kann nicht bremsen und rollt direkt auf fünf Gleisarbeiter zu. Nur Sie können den Tod der Arbeiter verhindern, nämlich indem Sie eine Weiche stellen und die Bahn umlenken. Doch auf dem anderen Gleis steht auch ein Arbeiter. Entweder also Sie tun nichts und fünf Menschen sterben, oder Sie stellen die Weiche und ein einzelner Mensch stirbt. Was ist moralisch geboten?
«Besser nur ein Toter als fünf»
Die meisten Menschen finden es richtig, die Weiche zu stellen. «Besser nur ein Toter als fünf», lautet die Begründung. Sie passt zur Ethik des «Utilitarismus». Diese bemisst den moralischen Wert einer Handlung allein daran, was für Folgen zu erwarten sind.
Für die Praxis heisst das: Handle so, dass das Glück der Betroffenen möglichst gross und das Leid möglichst klein sein wird. Das grösste Glück für die grösste Zahl – darin besteht das Ziel der Moral. Der gute Zweck heiligt jedes Mittel.
Die Sache mit dem dicken Mann
Doch was tun Sie, wenn Sie die fünf Arbeiter nur retten können, indem Sie einen sehr dicken Mann vor die Strassenbahn stossen? Hier zögern die allermeisten, obwohl auch hier gelten könnte: «Besser nur ein Toter als fünf». Warum also finden wir es falsch, den dicken Mann zu opfern?
Eine mögliche Antwort lautet: Wenn ich die Weiche stelle, nehme ich den Tod des einzelnen Gleisarbeiters lediglich in Kauf. Den dicken Mann dagegen werfe ich absichtlich in den Tod, um die fünf Arbeiter zu retten. Hier wird ein Mensch zum blossen Mittel zum Zweck gemacht. Das finden wir moralisch falsch.
Die Würde jedes Menschen
Diese Einsicht verdanken wir dem Philosophen Immanuel Kant. Nach Kant hat jeder Mensch eine unveräusserliche Würde, einen Wert, «der keinen Preis hat». Das Leben eines Menschen darf nicht abgewogen werden, weder gegen andere Menschenleben, noch gegen Geld oder sonstige Güter.
Gemäss seiner «Pflichtenethik» gibt es Handlungen, die in sich schlecht sind, egal wie gut die Konsequenzen sind. Töten, Foltern und Stehlen gehören für Kant dazu. Diese Handlungen sind kategorisch falsch und können nicht durch Kosten-Nutzen-Rechnungen aufgewertet werden. Der gute Zweck heiligt also nicht jedes Mittel.
Eine Frage, zwei Antworten
In der Philosophie gibt es auf die Frage, ob man Menschenleben opfern und gegeneinander abwägen darf, also zwei gegensätzliche Antworten. Der Utilitarismus sagt: Ja, denn der Zweck heiligt die Mittel. Die Pflichtenethik dagegen meint: Nein, das verstösst gegen die Menschenwürde.
Die beiden Moraltheorien begegnen uns derzeit nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Politik, etwa wenn es um die Auswirkungen des Lockdowns und um geplante Lockerungen geht. Der Lockdown soll Risikogruppen vor Covid-19 schützen sowie das Gesundheitssystem vor dem Kollaps. Letztlich geht es also darum, Menschenleben zu retten. Aber zu welchem Preis?
Der Preis des Lockdowns
Pointierte Aussagen sorgten in den letzten Tagen für Empörung: «In der Schweiz gehen Milliarden von Franken verloren, damit es einige Hundert Tote weniger gibt», sagte der Investor Samih Sawiris in einem Interview ( SonntagsZeitung, Abo ).
Selbst Ärzte verschliessen sich nicht der Frage, welchen Preis man für ein Leben bezahlen soll: 10 Millionen Franken koste ein gerettetes Leben derzeit in der Schweiz, schätzt der Arzt Antoine Chaix im Gespräch mit SRF, und meint: «Das ist schon sehr viel.»
Diese und andere Kritiker der Lockdown-Massnahmen werfen längerfristige Auswirkungen in die Waagschale: gigantische Kosten, Massenarbeitslosigkeit, eine wirtschaftliche Rezession, diverse psychische Leiden und mögliche soziale Unruhen.
«Prinzip der Doppelwirkung»
Sie halten die Massnahmen für unverhältnismässig und plädieren für eine schnelle Öffnung. Sie berufen sich dabei, meist ohne es zu wissen, auf das in der Philosophie umstrittene «Prinzip der Doppelwirkung».
Dieses besagt, dass bestimmte Handlungen moralisch zulässig sind, auch wenn sie moralisch schlechte, unbeabsichtigte Nebenfolgen haben, im schlimmsten Fall den Tod. Voraussetzung ist: Die guten Folgen müssen die schlechten überwiegen und es darf keine Alternative geben, den guten Effekt zu erzielen.
Wie aber soll man die diversen Auswirkungen des Lockdowns gegen Covid-19-Todesfälle abwägen? Wie viele Tote hätte es ohne Massnahmen gegeben? Und wie gravierend wären die wirtschaftlichen Folgen eines längeren Lockdowns? Wir wissen es nicht. Aber die Zeit drängt. Die Politik muss entscheiden. Jede Entscheidung aber bliebt riskant.
Patentrezepte für die Krise haben auch die Philosophen nicht. Aber wir sollten dennoch auf sie hören, denn sie haben lange und sorgfältig über die heiklen Fragen nachgedacht, die uns derzeit umtreiben.
Angesichts des dicken Nebels, in dem wir stochern, sollten wir uns die philosophische Tugend der Sorgfalt besonders zu Herzen nehmen. Denn jedes Leben, das wir verlieren, ist für immer verloren.