Sie ist zu einer Art Aufklärerin in der frommen Szene geworden: Veronika Schmidt. Die Sexologin aus Schaffhausen hat mit ihren Büchern «Liebeslust» und «Alltagslust» einen Nerv getroffen. Über 10’000 Exemplare hat sie vom ersten verkauft. Ihre Workshops, die sie in Freikirchen hält, sind ausgebucht.
«In der christlichen Lebenswelt bestimmt eine grosse Sprachlosigkeit das Thema», sagt Schmidt. «Diese möchte ich aufbrechen.»
Viele Tabus
Für die Sexologin ist klar, woher das Bedürfnis in den Freikirchen kommt, über Sex zu reden: «Weil es dort viele junge Menschen gibt. Und für die ist Sex einfach ein grosses Thema.»
Meistens ginge es in Jugendstunden oder Predigten ums Verdrängen der Sexualität, darum, bis zur Ehe zu warten. «Sexualität wird überhöht und gleichzeitig sind die jungen Menschen kaum informiert. Diese Verbotskultur führt dann zu Frust in den Ehebetten.»
Das will Veronika Schmidt ändern. Ihre Mission: Zeigen, dass Sexualität erlernt werden kann. Die Lust auf Lust wecken. Mit ganz praktischen Tipps. Veronika Schmidt ermutigt besonders Frauen dazu, ihren Körper kennen zu lernen und sich selbst zu befriedigen.
Damit bricht sie ein Tabu in frommen Kreisen. «Von den negativen Reaktionen her ist das ein noch grösseres Tabu als Sex vor der Ehe», sagt sie. Aber bei anderen Themen spüre sie viel Rückenwind für ihren Ansatz.
Selbstverantwortung statt Moral
Vielleicht ist die Zeit reif für eine zweite sexuelle Revolution und zwar in der religiösen Welt. Die bekannte US-amerikanische Pastorin Nadia Bolz-Weber hat gerade «Shameless - A Sexual Reformation» veröffentlicht.
Der Film «#Female Pleasure», der kürzlich bei uns in den Kinos lief, zielt in eine ähnliche Richtung.
Veronika Schmidt sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Entdecken lustvoller Sexualität und einer befreiten Persönlichkeit. «In der Beratung ist es schön zu sehen, was bei Frauen entsteht, die ihre Sexualität anders leben. Sie bekommen mehr Selbstsicherheit, Lebenswünsche werden wach, sie positionieren sich im Leben.»
«Wir müssen Sexualethik tatsächlich neu erfinden», sagt sie: «Sie darf nicht auf Moral beruhen, sondern muss auf Selbstverantwortung basieren.»
Monogamie hinterfragen
Verantwortung ist auch für die Theologie-Professorin Andrea Bieler ein zentraler Begriff. Die evangelische Theologin befasst sich mit Fragen nach gelebter Sexualität. «Ganz wunderbar» fände sie, wenn die Kirche einen Raum böte, in dem sich Menschen verschiedenster Identitäten austauschen und voneinander lernen könnten. Einen Ort, wo nicht wertend über Sexualität gesprochen wird.
Auf die Frage, ob die Theologie sich zu Sexualität äussern sollte, sagt sie: «Das tut Kirche seit Jahrhunderten! Aber leider mit dem Fokus, was erlaubt ist und was nicht.» Kriterien sollten stattdessen der Respekt vor der Einzigartigkeit des Gegenübers sein, Freiwilligkeit und Konsens, gleiche Verwirklichungschancen für beide.
Insgesamt plädiert sie dafür, das Denken in Schubladen kritisch zu hinterfragen. Sie stellt zum Beispiel infrage, dass die Monogamie in der christlichen Lebenswelt als die einzig wahre Lebensform dargestellt wird. Damit weitet sie die Grenzen des theologischen Diskurses gewaltig - ebenso wie Veronika Schmidt in evangelikalen Kreisen.