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Der 1. Weltkrieg Alltag im 1. Weltkrieg: Wenn es an allem fehlt

Wenig zu essen, überlange Arbeitszeiten, Angst um die Angehörigen an der Front: Der französische Historiker Bruno Cabanes, Professor an der Yale University in den USA, richtet im Buch «Der Erste Weltkrieg, eine europäische Katastrophe» den Blick immer wieder auf den Alltag der Bevölkerung.

Der Alltag in den vierzig kriegsführenden Ländern – und auch in den nicht von den Kampfhandlungen erfassten – war schwer zu bewältigen. Mangelernährung und Hunger quälten die Zivilbevölkerung. Zwischen 500 000 und 750 000 Menschen starben allein im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn an Hunger, sagt der 47-jährige französische Historiker Bruno Cabanes, der an der Yale University an der US-Ostküste lehrt und forscht.

Unter Kriegsgefangenen, in psychiatrischen Kliniken und unter den Kindern sei die Anzahl der Hungertoten besonders hoch gewesen. Vom «Steckrübenwinter» 1916/17, als es ausser – eben – Steckrüben nichts mehr zu essen gab, sprachen Zeitzeugen noch Jahrzehnte später.

Teurer Schwarzmarkt für Lebensmittel

Die Rationierung, in Deutschland 1915 und in Frankreich 1918 eingeführt, sollte der Nahrungsmittelknappheit entgegenwirken. Sie sollte den Verbrauch begrenzen und den Schwarzmarkt aushebeln. Letzteres gelang nicht, denn «bei Kriegsende liefen in Deutschland 50% der Lebensmittel über den Schwarzmarkt», stellt Bruno Cabanes fest. Auf dem Schwarzmarkt für teures Geld einzukaufen, konnten sich ohnehin viele Menschen nicht leisten, da sie knapp über der Armutsgrenze lebten.

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Raphael Zehnder über Propaganda im 1. Weltkrieg (Kontext kompakt vom 10.3.)
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Auf dem Land war die Ernährungslage besser als in den Städten, aber auch da klafften Lücken: Ein Viertel der Pferde in Frankreich waren zur Armee eingezogen. Sie fehlten als Zugtiere, bei der Ernte und beim Transport. Die Düngerproduktion sank, und nicht zuletzt mangelte es an Arbeitskräften, weil auch die Bauern in der Armee dienten.

Symbolische Deklassierung

Bruno Cabanes legt im Gespräch mit SRF 2 Kultur Wert darauf, dass der Nahrungsmangel auch eine starke symbolische Wirkung gehabt habe. Deutschland etwa hatte die Ernährung Ende des 19. Jahrhunderts umgestellt.

Insbesondere die Arbeiter hätten vermehrt Weissbrot aus Importgetreide gegessen: «Mit dem Krieg verbreitete sich das 'Kriegsbrot', Schwarzbrot aus Roggenmehl. Zahlreiche Deutsche erlebten das als symbolische Deklassierung.»

Frauenarbeit

Weil die Männer an der Front waren, mussten die Frauen in die Betriebe. Sie füllten alle Berufe aus, übernahmen Tätigkeiten in den Fabriken und in der Landwirtschaft. In der französischen Industrie etwa leisteten sie 14-Stunden-Schichten, erklärt Bruno Cabanes.

Buchhinweis

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Bruno Cabanes und Anne Duménil (Hg.): «Der Erste Weltkrieg, eine europäische Katastrophe». Darmstadt, 2013.

Die Frauen mussten die Doppelbelastung von Familie und Lohnarbeit bewältigen und lebten in ständiger Sorge um den Mann, Bruder, Vater, Verlobten, der Militärdienst leistete. Cabanes: «Familien erwarteten angespannt Nachrichten von der Front. Die Soldaten schrieben damals sehr oft nachhause, drei-, viermal am Tag! Wurde der Postverkehr unterbrochen, manchmal bloss aus logistischen Gründen, stürzte das die Menschen in Verzweiflung, weil sie dachten, ein Unglück sei geschehen. Die psychische Belastung war riesig und steigerte die Last, die die Leute bewältigen mussten.»

Soziale Konflikte

Der permanente Mangel an Lebensnotwendigem, die ständige Anspannung und die Wut über die organisatorischen Unzulänglichkeiten bei der Versorgung waren der Nährboden für wachsende soziale Spannungen, stellt Bruno Cabanes fest: «Im Frühling 1917 und im Januar 18 kam es in vielen deutschen Städten wegen des Hungers zu Streiks und Unruhen, häufig angeführt von Frauen.» Auch anderswo entluden sich die Spannungen: In Turin etwa kam es zu Hungerrevolten, und in Russland steigerten sich die Konflikte bis zur Februarrevolution von 1917.

Als schliesslich am 11. November 1918 Vertreter des Deutschen Reiches, Grossbritanniens und Frankreichs im nordfranzösischen Compiègne den Waffenstillstand unterzeichneten, waren Armeen und Zivilbevölkerung vor allem eines: erschöpft. Zehn Millionen tote Soldaten, sieben Millionen tote Zivilisten, Millionen von Verwundeten, unzählige Menschen von jahrelangem Mangel geschwächt. Neu anzufangen, war schwierig.

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