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Der gute Wolf Indigene sehen den Wolf als Vorbild und zärtliches Wesen

Er ist der Hüter der Flüsse und Seen, er hält die Wildtiere gesund, indem er kranke Tiere erbeutet, und den Menschen ist er ein Vorbild im Umgang innerhalb der Familie. So sehen Indigene in Nordamerika den Wolf.

Kaum ein Tier weckt so starke Emotionen wie der Wolf. Bauern und Jäger sehen in ihm den Inbegriff des Bösen, seine Rückkehr in den Alpenraum als direkten Angriff auf ihre Kultur. Förster und Biologen hingegen versprechen sich Vorteile für den Wald und die Biodiversität.

Ein Streit, der nicht nur in der Schweiz die Gemüter erhitzt, sondern auch in Nordamerika, wo der Wolf ebenfalls zurückkehrt, weil man ihn unter Schutz gestellt hat. Ein Streit, den Indigene in Kanada mit gemischten Gefühlen verfolgen, denn für sie gehört der Wolf so selbstverständlich zur Natur, wie alle anderen Wildtiere auch.

Leben mit den Wölfen

Doreen Spence ist Stammesälteste und Medizinfrau der Cree in Calgary, Kanada. Als eine der wenigen heute noch lebenden Indigenen, wuchs sie fern ab von Dörfern und Städten auf. «Ich wuchs mit den Wölfen auf, denn ich hatte das Privileg, dass meine Grosseltern noch ein traditionelles Leben führten».

Angst vor Wölfen kennt sie nicht. Noch heute besuche sie deren Revier und setze sich still hin: «Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich sie beobachte. Sie sind liebevoll und zärtlich und ich fühle mich geehrt und privilegiert, dass sie sich diesen Moment im Leben nehmen, um mich zu besuchen.»

Vorbild für die Familie

Auch Mike Lickers, Medizinmann vom Stamm der Mohawk in Kanada, sieht im Wolf ein zärtliches Wesen: «Kein Tier hat einen so starken Zusammenhalt in der Familie, wie der Wolf».

Onkel und Tanten kümmerten sich liebevoll um den Nachwuchs, während die Eltern auf der Jagd seien. «So lehrt uns der Wolf, wie eine Familie am besten funktioniert.»

Hüter der Seen und Flüsse

Doch der Wolf habe auch wichtige Aufgaben in der Natur, erklärt Doreen Spence. «Er ist der Hüter der Seen und der Flüsse und er arbeitet mit den Raben zusammen, um kranke und schwache Tiere zu finden und zu erbeuten».

Beides Beobachtungen, die sich auch wissenschaftlich belegen lassen. So hat die Wiedereinführung des Wolfes im Yellow Stone Nationalpark dazu geführt, dass die hohe Zahl der Wapitis zurückging und damit auch der Verbiss.

Sträucher und Bäume entlang der Flüsse konnten sich erholen und dienten dem Biber als Baumaterial für seine Dämme, wodurch Flüssen und Seen ihre natürliche Dynamik zurückgewannen.

Keine Angst vor dem Wolf

Fragt man Mike Lickers, ob er verstehen könne, wenn Menschen Angst haben vor dem Wolf, so schmunzelt er zuerst kurz und wird dann ernst. Die Angst vor dem Wolf in Europa komme aus längst vergangenen Zeiten, als diese deren Haustiere raubten.

Der Wolf als blutrünstiges Raubtier in den Grimm-Märchen und seine beinahe Ausrottung durch Bauern und Ranger in den USA, stehe im krassen Gegensatz zur Einstellung der Indigenen gegenüber dem Wolf und der Natur.

«Renne nicht weg, zeig nicht die Zähne»

«Wir wollen in Harmonie mit der Natur und den Tieren leben. Wir töten nicht aus Furcht, dass sie uns etwas Böses antun könnten.» Und dann erinnert er sich, was ihn seine Mutter zum Umgang mit dem Wolf gelehrt hat, wenn er denn überhaupt einmal das Glück habe, einen zu Gesicht zu bekommen:

«Renne nicht weg, zeig nicht die Zähne. Sprich ruhig mit ihm und schrei ihn nicht an, denn das ist als würdest du einen Menschen anschreien, bleib ruhig, und wenn du dich fürchtest, dann geh langsam von ihm weg und gib ihm genügend Raum».

Schliesslich seien wir es, die ins Territorium der Tiere eindringen, also sollten wir uns genauso respektvoll verhalten, wie wenn wir einen Menschen in dessen Haus besuchen.

Netz Natur, SRF 1, 27.8.2020, 20.05 Uhr

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