«21 Lektionen für das 21. Jahrhundert»: In diesen Tagen kommt ein Buch auf den Markt, das schon seit Wochen für Gesprächsstoff sorgt. Geschrieben hat es der erst 42-jährige israelische Historiker und Philosoph Yuval Noah Harari, der mit Büchern wie «Eine kurze Geschichte der Menschheit» oder «Homo Deus» weltbekannt wurde. «Sternstunde»-Moderatorin und Philosophin Barbara Bleisch hat das neues Buch bereits gelesen.
SRF: Ist die Aufregung um «21 Lektionen für das 21. Jahrhundert» gerechtfertigt?
Barbara Bleisch: Ja. Schon alleine deswegen, weil Yuval Harari sicher eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen weltweit ist. Einmal mehr legt er ein grosses – man kann sogar sagen grössenwahnsinniges – Projekt vor.
Es geht nämlich in den 21 Lektionen gleich um alle zentralen Herausforderungen der Menschheit wie nukleare Kriege, Klimawandel, Digitalisierung und Terrorismus.
Harari blickt immer aus der Vergangenheit in die Zukunft.
Gleichzeitig ist das Buch aber auch ein Plädoyer für Bescheidenheit. Ein Kapitel ist überraschenderweise der Demut gewidmet.
Was ist denn das Hauptthema des Buchs?
Mich überzeugt an diesem Buch am meisten, dass Harari als Historiker doch fassbar bleibt. Er ist ja nicht einfach einer der vielen Trendforscher, die mal eben den Daumen in den Wind halten. Sondern er blickt immer aus der Vergangenheit in die Zukunft.
Harari glaubt nicht, dass wir einen freien Willen haben.
Vor diesem Hintergrund finde ich seine Überlegungen zur Entwicklung des Liberalismus besonders lesenswert – aber auch sehr besorgniserregend. Denn Harari glaubt, dass der Liberalismus in der jetzigen Form nicht überleben wird. Das hat damit zu tun, dass Harari nicht wirklich an das Individuum glaubt.
Liberalismus baut auf der Idee auf, dass die individuelle Freiheit ein sehr hohes Gut ist. Findet Harari das überholt?
Ich würde nicht sagen, dass er das überholt findet. Ich glaube, er findet einfach, dass die Grundlage dieses Freiheitsbegriffs eben nicht so klar gegeben ist.
Harari glaubt nicht, dass wir einen freien Willen haben. Und er glaubt nicht, dass Selbstbestimmung oder Autonomie zentrale Werte sind – weil wir eben auch gar nicht wirklich frei sind.
Wie begründet er das?
Für Harari ist es eine ausgemachte Sache, dass künstliche Intelligenz und Biotechnologie unsere Gefühle und Überzeugungen kontrollieren und formen werden oder dies schon tun.
Und da überrascht er, weil er uns anders als andere Intellektuelle wie Richard David Precht oder Harald Welzer nicht wachrütteln will und sagt: «Wir müssen uns dagegen wehren. Wir müssen unsere Freiheit bewahren.» Das freie Individuum hat für ihn keinen so hohen Stellenwert.
Warum ist er denn nicht der Meinung, dass wir unsere individuelle Freiheit verteidigen müssen?
Hararis oberstes Ziel ist es, die Menschheit mitfühlender zu machen und Leid zu verhindern. Das Individuum zählt für ihn schon, aber es geht eigentlich immer um die gesamte Menschheit. Und wenn uns die Technik helfen kann, mitfühlender zu werden, dann ist das in Hararis Augen umso besser.
Die Lektüre ist ein Genuss.
Vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass das letzte Kapitel dem Thema Meditation gewidmet ist. Das ist ja eben auch eine Art Technik, die sich zum Beispiel im Silicon Valley grosser Beliebtheit erfreut.
Es geht dabei darum, das eigene Denken und Fühlen zu kontrollieren. Harari selber meditiert täglich mindestens zwei Stunden.
Harari will die Kontrolle der Gefühle aber auch der künstlichen Intelligenz überlassen. Ist es nicht gefährlich, wenn das etwa in Diktaturen eingesetzt wird?
Doch, aber auch da überrascht er. Er ist nämlich nicht wie viele andere der Meinung, dass es viel vertrauenserweckender ist, auf den Staat zu setzen.
Er sagt, es sei fast egal, ob eine Wirtschaftsmacht unsere Daten sammelt oder ein Staat. Denn beide könnten diese Daten zu unseren Gunsten verwenden – aber eben auch zu unseren Ungunsten.
Aber er sieht auch, dass Big Data eine Chance sein kann. Zum Beispiel, indem uns gewisse Entscheidungen leichter fallen. Oder wenn wir klügere oder mitfühlendere Entscheidungen fällen können. Harari ist da nicht so pessimistisch wie andere.
Würden Sie das Buch auch jemandem empfehlen, der nicht Geschichte oder Philosophie studiert hat?
Selbstverständlich. Harari schreibt extrem packend und verständlich. Die Lektüre ist ein Genuss.
Aber man muss auch sagen: Ein Buch, das über alle grossen Fragen der Menschheit Auskunft geben und trotzdem verständlich sein will, birgt natürlich auch Probleme. Letztlich bleibt vieles ein Stück weit holzschnittartig. Ich glaube aber, man darf sagen, dass es ein sehr gelungener Holzschnitt ist.
Das Gespräch führte Irene Grüter.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 25.9.2018, 17.10 Uhr