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Gesellschaft & Religion Die eigene Familiengeschichte dem Schweigen entrissen

Anna und Armand lernen sich kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kennen. Als Juden müssen sie in die Schweiz fliehen. Hier trennen sie sich – und sprechen nie mehr miteinander. Ihre Enkelin macht sich auf die Suche nach dem Geheimnis ihres Schweigens. Und stösst auf ein Stück Weltgeschichte.

In jeder Familie schlummert ein Geheimnis. Selbst wenn Ahnungen oder sogar Wahrheiten zu Tage treten, bleibt es für die Nachkommen im Schweigen der Eltern und Grosseltern verborgen. Verschüttete Lebensläufe auszugraben um die in einer Zeitkapsel eingesperrte Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, verlangt Besessenheit und zähes Ringen um jeden Fetzen Erinnerung. Das war die Ausgangslage von Miranda Richmond Mouillot für ihr Buch: A Fifty-Year Silence.

Buchhinweis

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Miranda Richmond Mouillot: «A Fifty-Year Silence». Penguin Random House, 2014.

Miranda Richmond wächst von Mutter und Grossmutter wohlbehütet in Asheville, North Carolina auf. Das Leben scheint eingespurt: High School, Universität, einen «nice guy» finden, Kinder. Mit 16 wird Miranda Richmond für ein Jahr in ein Internat am Genfersee geschickt. Sie hasst die Zeit dort. Einziger Lichtblick sind die Wochenenden bei ihrem Grossvater Armand, der als pensionierter UN-Übersetzer in Genf lebt. Bis zu dieser Begegnung ist Armand der grosse Abwesende in Mirandas Leben gewesen. Nie war er zu Besuch gekommen, nie hatte Grossmutter Anna über ihn und die Jahre ihrer Liebe gesprochen.

Die «verbotene Vergangenheit»

In diesem Sommer fährt Armand mit Miranda in die Ardèche. Dort, in der Nähe von Alba offenbart sich ihr der erste Blick in die «verbotene Vergangenheit». Ein kleines, halb zerfallenes Steinhaus in einem von der Zeit vergessenen Dörfchen. Armand zieht einen Schlüssel aus einer Steinritze. «Hier habe ich mit deiner Grossmutter gelebt, das war unser erstes eigenes Zuhause.»

Hörspiel-Premiere

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Auf der Geschichte von Miranda Richmond Mouillots Familie basiert das Hörspiel «Hornissengedächtnis», produziert von SRF und ORF. Es wurde am 24. April 2015 zum ersten Mal ausgestrahlt.

Regie führte David Zane Mairowitz. Ein Interview mit dem US-amerikanischen Autor gibt es hier (Teil 1) und hier (Teil 2) zu hören.

Von da ab lässt Miranda die Vergangenheit nicht mehr los. Mehr noch, eine unerklärte Macht in ihr zieht sie an den Ort zurück, der geheimnisvoll nach ihr ruft. Zurück bei Mutter und Grossmutter versucht sie die Zusammenhänge in den Leben von Anna und Armand in Erfahrung zu bringen.

Ein halbes Jahrhundert Schweigen

Seit bald 50 Jahren sprechen die beiden nicht mehr miteinander. Anna wanderte nach Amerika aus, Armand blieb in Europa. Und doch haben sie einander geliebt, zusammen gelebt und ein Kind zur Welt gebracht. Was war geschehen – wo und warum sind ihre Leben zerbrochen, warum schweigt Armand so beharrlich?

Miranda Richmond zieht mit Anfang zwanzig in das zerfallene Haus in Frankreich. Nun beginnen sich erste Bruchstücke aus den Biografien zu fügen. Immer wieder besucht sie Armand in Genf. Sie lockt Worte und Bilder aus ihm heraus und führt gleichzeitig eine ausführliche Korrespondenz mit Grossmutter Anna. Sie begibt sich auf Spuren, besucht Archive und liest sich in andere Schicksale ein.

Flucht in die Schweiz

Anna Münster und Armand Jacoubovitch sind sich 1936 in Paris begegnet. Beide studieren, beide haben ein hoffnungsvolles Leben vor sich, beide sind Juden. Es kommt der Krieg, der deutsche Einmarsch in Paris, die Flucht in das noch freie Frankreich, später die Furcht vor Denunziation und Deportation. Anna ist umsichtig und als Ärztin in den Internierungslagern unabkömmlich. Sie rettet Armand.

Im Dezember 1942 fliehen sie gemeinsam durch Schnee und Eis über den Col de Coux in die Schweiz. Anna und Armand werden getrennt interniert. Er durchläuft eine Lager-Odyssee. Sie wird als Flüchtlings-Ärztin gebraucht. Erst gegen Ende des Krieges scheint eine kurze, glückliche Zeit in Genf anzubrechen.

Die Enkelin setzt die Fragmente zusammen, beinahe lückenlos. Dort wo die Fakten spröde bleiben, imaginiert sie die Seelen ihrer Grosseltern. Sie schafft Stimmungen und beschreibt Situationen die mutmasslich sind, und sich doch als wahrhaftig entfalten. Mit einer nie nachlassenden Akribie trägt die Chronistin alle Schichten ab. Kurz bevor Armand in die lange Dämmerung des Vergessens eintaucht, offenbart er Miranda, wonach sie so lange gesucht und gefragt hatte.

Miranda bricht das Schweigen

Armand war als Übersetzer bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen tätig gewesen. Was er in den Wochen und Monaten dort hörte und sah, war schier unerträglich für ihn. Immer wieder fand er keine Worte für das Morden, dem auch seine Familie nicht entgehen konnte. Um weiterzuleben, musste er das für ihn Unaussprechliche vergessen und in sich begraben. Nur das schwere Schweigen konnte ihn retten. Er stürzte sich in ein neues Leben – ohne Anna, deren Nähe ihn zeitlebens erinnert hätte.

Von dieser Last der Vergangenheit befreit ihn nun die Enkelin. Sie bricht das lange Schweigen. Und kann nun endlich auch in ihr Leben aufbrechen.

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