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Gesellschaft & Religion Die traurige Geschichte einer Familie, die Geschichte schrieb

Auf dem höchsten Punkt des Londoner Friedhofs Highgate steht ein grosses Mausoleum. Es gehört der jüdischen Familie Beer. Eine Familie mit einer tragischen Geschichte – und eine Familie, die englische Mediengeschichte schrieb.

Das Mausoleum der Familie Julius Beer steht in London, Highgate Cemetery. Die Türen sind verriegelt. Schaut man durch die winzigen Fenster in den Eingangstüren, spiegelt sich Romanisches von gegenüber. Innen umarmt ein Engel ein kleines Mädchen. Die Zeit steht lautlos still in Marmor.

Fertiggestellt wird das Mausoleum 1875. In Auftrag gegeben hat es der Bankier Julius Beer. In Frankfurt geboren, wächst er dort im jüdischen Ghetto auf. Der Antisemitismus ist gross. Er beschliesst, sein Glück in London zu versuchen. Er spekuliert an der Börse und wird reich. Auch in London ist das Leben als Jude nicht leicht. Er konvertiert zur anglikanischen Kirche. In der Geschäftswelt bleibt er aber immer «der Jude». Er kauft von einem Teil seines Reichtums den «Observer» und wird Zeitungsverleger.

Das Mausoleum der Familie Beer

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Das Mausoleum ist virtuell zugänglich als 360-Grad Ansicht.

Ein Mausoleum für Ada

Er heiratet Thyrza. Die beiden bekommen einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter heisst Ada und stirbt im Alter von acht Jahren. Ada wird auf dem Highgate Cemetery zuerst in einem normalen Grab beerdigt. Julius Beer lässt bald ein Mausoleum errichten. Holt berühmte Baumeister und Bildhauer der Zeit. Das Mausoleum steht auf dem höchsten Punkt von Highgate. Gerüchte machen die Runde. Er habe die Tochter zu Lebzeiten missbraucht. Alles Lüge. Natürlich.

Ein Protzbau sei das, ist zu hören. Dabei hat die Lage des Mausoleums eine ebenso traurige wie einfache Erklärung. Nach Einbruch der Dunkelheit traut sich Beer kaum noch auf die Strasse. Zu gefährlich – für einen Juden. Er baut das Mausoleum deshalb so hoch, damit er den Turm von seinem Haus aus sehen und Ada «Gute Nacht» sagen kann. Das tut er, nachdem ihr Sarg ins Mausoleum umgebettet ist.

Beer stirbt 1880. Wenig später auch seine Frau. Sie sei umnachtet gewesen, sagen böse Zungen. Andere sagen, sie sei an gebrochenem Herzen gestorben.

Portrait von Rachel Beer in indischem Gewand mit Perlen und Fächer
Legende: Rachel Beer wurde in Bombay geboren. Die undatierte Aufnahme zeigt sie wahrscheinlich im Alter von 20 Jahren. Wikimedia

Eine eigene Zeitung

Sein Sohn Frederick führt die Zeitung weiter. 1887 heiratet er Rachel Sasson. Die kommt aus beispiellos reichem Hause und konvertiert wegen Beer. Daraufhin wird sie von ihrer Familie verstossen. Sie habe einen «Ungläubigen» geheiratet.

Rachel Beer hat keinerlei journalistische Kenntnisse, beginnt jedoch im «Observer» zu arbeiten. Sie steigt schnell auf und legt sich mit der Männerwelt an. Ihr Mann kauft ihr eine eigene Zeitung, damit wieder Ruhe im «Observer» einkehrt. 1891 wird sie die erste Herausgeberin der englischen «Sunday Times».

Rachel Beer gibt der Dreyfus-Affäre die entscheidende Wendung

1894 wird in Paris ein Offizier angeklagt, Geheimnisse an die Deutschen verraten zu haben: Alfred Dreyfus. Der wird in einem Prozess mit falschen Beweisen verurteilt und öffentlich degradiert. 20'000 Pariser sind zugegen und rufen: «Tod den Juden!» Rachel Beer hört von dieser Geschichte. Sie will Dreyfus' Unschuld beweisen. Sie beauftragt Detektive.

Highgate Cemetery

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Das Mausoleum der Familie Beer ist im Westteil des Highgate Cemetery gelegen. Dieser ist nur mit einer Führung zugänglich. Eine Buchung ist unbedingt erforderlich.

In dieser Zeit wird ihr Mann schwer krank. Sie übernimmt den «Observer» – als Herausgeberin. Rachel Beer ist nicht nur die erste Frau, die eine englische Zeitung herausgibt, bis heute ist sie die einzige, die zwei herausgibt, zu einer Zeit, als keine Frau in England wählen darf.

Donnerstag, 13. Januar 1898. Emile Zola veröffentlich sein berühmtes «J'accuse»: Seinen offenen Brief an den Präsidenten der französischen Republik. Zola bezeichnet darin den Dreyfus-Prozess als Farce, als antisemitisch, als rassistischen Schauprozess. Die Grande Nation steht Kopf.

Rachel Beers Detektive finden in der Dreyfus-Affäre den wahren Schuldigen, der unterschreibt ein Geständnis. Der Prozess wird neu aufgerollt, Dreyfus rehabilitiert. Der Richter sagt, Dreyfus sei eines einzigen Verbrechens angeklagt worden: «Jude zu sein.» Rachel Beer veröffentlicht die Story. Alle anderen englischen Zeitungen haben den Scoop verschlafen.

Buchhinweis

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Negev, Eilat und Koren, Yehuda: «The First Lady of Fleet Street», London 2012

Hässlicher kann ein Ende schwerlich sein

1903 stirbt Rachel Beers Mann Frederick. Zwei Tage später schreibt sie wie gewohnt ihren Leitartikel. Erst später bricht sie zusammen. Ihre Familie, die sie verstossen hat, will sie entmündigen lassen und bietet dazu die besten Doktoren auf.

Der Richter fragt die Doktoren, ob sie mit der umnachteten Frau ernstlich die Frau meinen, «die den ‹Observer› herausgibt». Die Doktoren bejahen. Rachel Beer wird entmündigt und kommt ins Heim. Als sie 1927 stirbt, sorgt dieselbe Familie dafür, dass sie nicht bei ihrem über alles geliebten Frederick im Mausoleum beigesetzt wird sondern in ungesegnetem Grund in Turnbridge Wells.

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