Sie hatte Panik. Ihre Erfolge als Juniorin waren verblasst. Die Kolleginnen zogen an ihr vorbei, «in Riesenschritten». Dominique Gisin brachte keine Resultate und fiel aus dem System. Sie hatte keinen Coach, der ihr Training überwachte. «Ich war nur noch ich selbst».
«Es war extrem»
Dominique Gisin war in einen Teufelskreis geraten. Sie trainierte vor Schulbeginn, ging über Mittag in den Kraftraum und nach der Schule wieder. Blieb bis 22 Uhr. Die schnellen Fortschritte schienen der Schinderei Recht zu geben. Also trainierte sie noch härter.
«Es war extrem», sagt Dominique Gisin. Bis Gisins Mutter Stopp sagte. Und auch ihre Physiotherapeutin. Heute sei ihr diese Trainingssintensität «absolut unvorstellbar».
Mutters Machtwort
Die Erfahrungen haben ihr ihre Grenzen aufgezeigt: «Ich dachte: Wie kann ich das irgendwie wieder schaffen? Ich muss noch mehr trainieren. Ich muss noch mehr machen. Ich muss noch mehr arbeiten.»
Es sei schon extrem gewesen, sagt sie, als ihre Mutter morgens um fünf auf der Treppe sass. Und sie wieder zurück ins Bett sperrte, als sie trainieren wollte.
Dominique Gisin startete in ihre erste Saison nach der Juniorinnenzeit. Die Resultate waren nicht schlecht, reichten aber nicht für die Selektion ins Nationalkader. Sie gab nicht auf.
Der Schlüsselmoment
Dominique Gisin wechselte in die Speed-Disziplinen. «Nie zuvor war ich Abfahrt oder Super-G gefahren und die 2.10 bis 2.18 Meter langen Skis waren eine enorme Herausforderung für meinen Körper», schildert Gisin im Buch «Making it happen».
Die Premiere war eine Sensation: Mit der letzten Startnummer fuhr sie in zwei Rennen in die Top Ten.
«Omi, da isch d’ Dominique...»
Es kam noch besser: Dominique Gisin gewann bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi die Goldmedaille in der Abfahrt.
Danach rief sie ihre Grossmutter an. Die legendäre Szene treibt einem zuverlässig das Wasser in die Augen. Der Grossvater lag im Sterben. «Ich hatte das Bedürfnis, diesen Moment des Glücks mit ihnen zu teilen.»
Dominique Gisin sagt heute, der Moment sei wahrscheinlich der einzige in ihrer Karriere gewesen, in dem sie vergessen habe, dass sie gefilmt wird.
Die Sache mit dem Talent
Hat sie den tränenreichen Triumph nicht auch ihrem Talent zu verdanken? Talent, das ihr in die Wiege gelegt wurde? Dominique Gisin widerspricht. Sie habe zwar früh gemerkt, dass sie gut Skifahren könne. Besonders sportlich begabt sei sie aber nie gewesen.
Die Definition ihres Mentalcoaches passe ihr gut: Talent sei die Kombination von zwei Faktoren: Überdurchschnittliche Motivation und die Fähigkeit, sich schnell verbessern zu können.
Das Leben danach
Heute engagiert sich Dominique Gisin in der Sporthilfe. Sie setzt sich ein für die individuelle Förderung der jungen Talente. Was für die eine Sportlerin Balsam ist, ist für den andern Gift.
Die Trainerinnen und Trainer hätten eine zentrale und enorm wichtige Aufgabe: herauszufinden, welcher Weg für welches Talent der richtige ist. Dominique Gisin unterstützt den dualen Weg: junge Athletinnen und Athleten sollen neben dem Training auch intellektuell gefördert werden.
Auch die weniger an Bildung Interessierten sollen ein Minimum davon bekommen. Ihre Erfahrung des masslosen Trainings ohne Coach will sie anderen ersparen.