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Ein deutscher Drehorgelspieler in Lugano
Aus Kultur-Aktualität vom 24.12.2018. Bild: SRF
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Drehorgelspieler in Lugano «Manchmal bin ich wie ein Psychologe auf der Strasse»

Das Tessiner Wahrzeichen mit dem roten Bart und deutschen Wurzeln kennen in Lugano alle: Drehorgelspieler Jörg Wolters.

Er ist ein Tessiner Wahrzeichen, trägt aber einen deutschen Namen: Jörg Wolters. Seit 30 Jahren spielt der gebürtige Hamburger Musik auf Tessiner Plätzen. Immer mit dabei: seine Drehorgel.

«Wenn ich ohne Orgel in die Stadt gehe, fragen die Leute gleich, ob es denn heute keine Musik gäbe», sagt er. Die Leute hier kennen ihn. Gerade spielt er Weihnachtsmusik für sie.

Die Leute grüssen mich alle. Das ist ein schönes Gefühl.
Autor: Jörg WoltersDrehorgelspieler

Mit etwas über 20 Jahren kam er der Liebe wegen ins Tessin. Die Liebe ist zerbrochen, Wolters ist geblieben. «Im Tessin gefällt’s mir», sagt er. «Ich habe erst nur in der Freizeit die Drehorgel gespielt. Dann habe ich begonnen, es hauptberuflich zu machen.»

Bart, Mantel, Zylinder

Der grossgewachsene, breitschultrige Mann mit seinem roten langen Bart und dem schwarzen Zylinder fällt auf. «Die Leute grüssen mich alle. Das ist ein schönes Gefühl», sagt er.

Jörg Wolters ist beliebt, doch nicht alle schätzen seine Kunst. «Es gibt einige, die mich beleidigen oder verletzen. Einige sagten: ‹Ich mach' dir die Orgel kaputt. Geh’ arbeiten!›», erzählt er. «Aber ich arbeite ja. Wenn ich zwölf Stunden Musik mache, dann ist das auch Arbeit.»

Digitaler Protest

Der Grossteil der Luganesi mag ihn. Deutlich wurde das vor ein paar Jahren. Ein Ladenbesitzer wollte ihn damals vertreiben. Binnen 24 Stunden gründeten Fans von Jörg Wolters eine Facebookseite, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen.

Diese hatte schnell über 10’000 Mitglieder, die gegen die Vertreibung vom Drehorgelspieler protestierten. Es folgte eine Aussprache. Mittlerweile hat Wolters eine Dauerbewilligung. Er kann überall und immer spielen.

Ein Drehorgelspieler. Vor ihm hält eine Frau mit einem Kind im Kinderwagen.
Legende: Der deutsche Drehorgelspieler spielt für jeden. Auch für die, die nichts geben. srf

Sein Erfolgsrezept? «Der, der nichts gibt, den grüsse ich genauso wie die Leute, die mir vielleicht etwas geben», sagt Wolters. «Alle gleich behandeln, das macht viel aus. Man muss nicht immer fordern. Es gibt Leute, die fordern, aber das mache ich nicht.»

Orgel versus Hektik

Wolters dreht und lächelt. So grüsst er die Menschen. Er ist kein Schwätzer, sondern ein Zuhörer. «Die Leute kommen mit ihren Problemen zu mir, oder sagen, wie es ihnen geht. Dann sage ich spontan etwas, das passt in dem Moment. Manchmal bin ich wie ein Psychologe auf der Strasse.»

Der Drehorgelmann sieht sich als ruhender Pol in immer hektischeren Zeiten. «Durch ihn erinnere ich mich an meine schönen Kindheitsmomente, an die Weihnachtszeit», sagt ein Passant. «Er ist für mich die personifizierte Weihnacht.»

Münzen klirren

Immer wieder landen Münzen in der Tasse von Wolters. «Was ich heute verdiene, das habe ich. Was ich morgen verdiene, ist morgen», sagt er. «Ich bin mit dem zufrieden. Sonst hat man nie genug. Man kann alles haben und doch unzufrieden sein. Aber ohne Geld bin ich noch nie nach Hause gekommen.»

Sein Zuhause ist ein Wohnwagen auf einen Campingplatz. «Ich habe ein Haus ohne Hypothek», sagt Wolters dazu. Er blickt nach oben und sagt: «Ich bin auch gläubig. Ich weiss, dass einer oben ist und zu mir schaut.»

Seit 30 Jahren ist er keinen Tag krank gewesen, sagt der er. Sein Arm dreht und dreht, 12 Stunden pro Tag während der Weihnachtszeit.

Ans Aufhören denkt der 59-Jährige nicht: «Viele denken, sie holen mit 65 nach, was sie bis dahin nicht tun konnten. Aber jeder Tag, den ich nicht gelebt habe, ist verloren. Das kann ich nicht nachholen. Darum spiele ich Musik, solange es die Gesundheit zulässt.»

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