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Dschihad als Ausweg Wer sich radikalisiert – und warum

Jung, männlich, orientierungslos: Eine Studie zeigt, wer hierzulande anfällig ist für eine dschihadistische Radikalisierung.

«Das ist die Spitze des Eisbergs», sagt Miryam Eser Davolio. Sie forscht zur dschihadistischen Radikalisierung in der Schweiz und spricht über die Informationen zu über 130 Personen, die der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) gesammelt hat.

Mit den Ergebnissen kommen die Professorin der Zürcher Hochschule der angewandte Wissenschaften und ihr Team zum Schluss: Insgesamt sei für die Schweiz mit einigen hundert SympathisantInnen des «heiligen Krieges» zu rechnen.

Ein junger Mann mit Kappe schaut aus der Ferne auf eine beleuchtete Stadt.
Legende: Lebenskrisen können dazu führen, dass sich jemand radikalisiert. Das ergibt die Studie der ZHAW. Photocase/Jonathan Schöps

Vor allem Männer

Auf die Wohnbevölkerung hochgerechnet, ergibt sich aber ein geringer Anteil (1.6 dschihadistisch-radikalisierte Personen auf 100’000 Einwohner). Er ist leicht tiefer als der in Deutschland und deutlich niedriger als etwa in Grossbritannien, Belgien und Frankreich.

Die dschihadistische Radikalisierung betrifft in der Schweiz vor allem Männer. Durchschnittsalter: 28 Jahre. Die Radikalisierung Minderjähriger ist die Ausnahme.

Nur sechs Prozent der erfassten Personen haben einen Maturitätsabschluss, lediglich fünf Prozent eine Hochschulausbildung. Beinahe ein Drittel der untersuchten Personen waren ohne Arbeit, bevor sie sich radikalisierten.

Ausweg aus der Lebenskrise

Während der Radikalisierung verdoppelte sich dieser Anteil fast (auf 58 Prozent). Ein Fünftel sind Konvertiten. Nur 21.5 Prozent stammen ursprünglich aus West- und Südeuropa (einschliesslich der Schweiz), doch zwei Drittel verbrachten ihre Jugend oder ihre Kindheit in der Schweiz.

«Demnach trifft der häufig verwendete Begriff ‹homegrown› in der Mehrheit auch auf Radikalisierungsfälle in der Schweiz zu», heisst es in der Studie. Die Radikalisierung ist also in der Schweiz erfolgt.

Häufig radikalisieren sich Menschen in Lebenskrisen, etwa wenn ein Familienmitglied oder andere nahestehende Personen sterben. Auch die Trennung vom Partner, Krankheit und Jobverlust können bewirken, dass Menschen ihr Leben und dessen Sinn hinterfragen und nach Orientierung suchen.

Empörung über Ungerechtigkeit

Bei der Sinnsuche berührt sich die dschihadistische Radikalisierung mit der rechts- und der linksextremistischen. Junge Erwachsene seien besonders anfällig, sagt Eser Davolio.

Denn junge Menschen empörten sich stärker über Sachverhalte, die sie als ungerecht empfinden: «Sie möchten die Welt verändern, sehen aber Probleme, die sich nicht ändern.»

Dschihadisten biete der Nahostkonflikt solches Empörungspotential, aber auch die Rechtsextremen und die Linksextremen haben ihre Aufregerthemen: Migration und Identität hier, Kapital und Globalisierung dort. Und alle predigen sie ihre allein selig machenden Utopien, die sie bei Bedarf mit Gewalt durchsetzen wollen.

Freund-Feind-Schema

Eser Davolio sieht weitere Gemeinsamkeiten. «Diese drei Extremismus-Formen pflegen ein starkes Freund-Feind-Schema und damit verbunden ein Schwarz-Weiss-Denken», sagt sie.

«Man weiss genau, was richtig ist. Weil man glaubt, die Wahrheit zu kennen, verurteilt man Andersdenkende und ist somit auch demokratiefeindlich, weil der Pluralismus, dass es andere Meinungen geben kann, nicht akzeptiert wird.»

Entscheidenden Einfluss auf die Radikalisierung eines Menschen übe nicht das Internet aus, so die Studie. Wichtiger seien «realweltliche Kontakte», die den Zielpersonen das Gefühl vermitteln, akzeptiert zu sein, zu einer Gruppe wirklich dazuzugehören, sich für einen Sinn zu engagieren.

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