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Ein Friedensdorf in Äthiopien In Awra Amba erziehen Männer und Frauen die Kinder gemeinsam

Im äthiopischen Dorf Awra Amba haben Männer und Frauen gleiche Rechte. Religion ist unerwünscht, Bildung hat Priorität.

Die Provinz Amhara ist die Kornkammer Äthiopiens. Rund um den Lake Tana, den drittgrössten See Afrikas, erstrecken sich Reis- und Weizenfelder. Hier lag einst die Wiege der christlich-orthodoxen Kirche des Landes.

Auch das äthiopische Judentum hat in der Region seine Wurzeln. Äthiopien ist noch heute ein sehr traditionelles, von Religion geprägtes Land.

In einem Seitental – inmitten einer hügeligen Landschaft – befindet sich eine einzigartige Dorfgemeinschaft: Awra Amba. Hier ist alles anders als im Rest Äthiopiens: Hier wird die Idee von Gleichheit und Brüderlichkeit gelebt. Der Glauben spielt keine Rolle, Frauen und Männer verrichten die gleiche Arbeit, haben dieselben Rechte und Pflichten, teilen die Einkünfte der Arbeit, organisieren das Gemeinwesen zusammen, erziehen die Kinder.

Seit über 40 Jahren leben die Bewohner dieses Experiment, das an die Emanzipationsbewegung der 1960er-Jahre erinnert und an die Ideale der Französische Revolution. Der für das Land so typische, überall herumliegende Müll fehlt hier. Die Häuser sind in gutem Zustand, es wird nicht gebettelt.

Ein Guru und seine Ideen

Gründer, Vordenker und treibende Kraft in Awra Amba ist ein 68-jähriger Bauernsohn ohne Schulbildung. Zumra Nuru, ein korpulenter Mann mit melancholischem Blick, behauptet, schon als Kleinkind die Ungleichheit von Mann und Frau erkannt und als ungerecht empfunden zu haben. Dagegen setzte er seine Utopie des Miteinander und gründete 1972 mit einigen Getreuen ein eigenes Dorf. Bis heute wird er dort wie ein Guru verehrt.

Ein Mann mit neongelber Mütze
Legende: Dorfgründer Zumra Nuru. Michael Marek

Gegen enorme Widerstände, Awra Amba wurde lange Zeit stark angefeindet. Von wechselnden Machthabern in Addis Abeba, Provinzfürsten, der orthodoxen Kirche; und nicht zuletzt auch von den Nachbargemeinden, deren traditionelle Lebensweise Männern und Frauen bis heute sehr unterschiedliche Alltagsaufgaben zuweist.

Keine Religion, keine Kinderehen

In Awra Amba hingegen spielt Religion keine Rolle. Ehen unter 18 Jahren sind verboten – ebenso Polygamie. Männer und Frauen arbeiten alle, soweit möglich, das Gleiche. Sie teilen sich Feldarbeit, häusliche Pflichten, Kindererziehung. Sie arbeiten zusammen in der Kornmühle Awra Ambas, in der Molkerei, in der Weberei. Es gibt ein Teehaus, ein Hostel.

Im orthodox geprägten Äthiopien kommt so etwas bis heute nicht gut an. Es gibt Regionen mit 170 religiösen Feiertagen im Jahr, das schränkt die Arbeitseffizienz stark ein – vor allem in ländlichen Gebieten.

Eine Frau steht vor einer Bücherwand
Legende: Lehrerin Worksew Yeshanew in der Bücherei von Awra Amba. Michael Marek

Awra Amba hat eine eigene Schule mit Kindergarten und Bücherei. Alle Bewohner lernen Lesen und Schreiben. Touristen besuchen den Ort, NGOs berichten, Awra Amba wurde ausgezeichnet, Zumra Nuru ist Ehrendoktor einer Universität Äthiopiens.

Ein Experiment? Eine Kommune? Eine Vision?

Awra Amba verdient Geld. Sponsoren unterstützen das Projekt mit Spenden. Es war der wirtschaftliche Erfolg, der die Gemüter der Nachbarn besänftigte. Sie dürfen Awra Ambas Betriebe nutzen, ihre Milch verarbeiten, ihr Getreide mahlen, ihre Kinder in die Schule schicken.

Das alles klappt nicht ohne strikte Ordnung in dem Ort, den heute 144 Familien mit gut 500 Mitgliedern bewohnen. Eine Vielzahl Komitees regelt Arbeit und Alltag.

Awra Amba

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Awra Amba liegt etwa 75 km nördlich der Provinzhauptstadt Bahir Dar. Die Führung kostet umgerechnet sieben Franken pro Person. Zu empfehlen ist der Ausflug mit einem englischsprachigen Guide, der individuelle Fragen und deren Antworten übersetzen kann. Zumra Nuru spricht nur Amharisch.

Informationen unter http://visitawraamba.com

Besucher werden von jungen, gebildeten Bewohnern routiniert empfangen, die sie durch den Ort führen, Awra Ambas Erfolge illustrieren und Zumra Nuru assistieren. Der lässt es sich nicht nehmen, jeden einzelnen zum Gespräch zu treffen, um seine Ideen vorzustellen, die im heutigen Äthiopien noch immer revolutionär erscheinen.

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