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Emotionen in der Politik «Abstrakte Prinzipien bewegen die Menschen nicht»

In Zeiten von Fake News scheinen Fakten wichtiger denn je. Falsch, sagt die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum. Ohne Emotionen sei die Politik letztlich verloren, erklärt die Gastprofessorin der Universität Zürich im Interview.

Prof. Dr. Martha Nussbaum

Philosophin

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Die US-amerikanische Denkerin Martha Nussbaum, geboren 1947, gilt als eine der profiliertesten Philosophinnen der Gegenwart. Sie hat sich in ihren Büchern mit den Bedingungen des politischen Lebens auseinandergesetzt. In ihrer Ethik spielt der Erkenntniswert von Emotionen eine wichtige Rolle.

Martha Nussbaum unterrichtete an den Universitäten von Harvard, Brown und Oxford. Aktuell lehrt sie Ethik und Rechtswissenschaft an der University of Chicago. Im Dezember hatte sie eine Gastprofessur an der Universität Zürich.

Für ihre Arbeiten hat sie zahlreiche Preise erhalten, darunter den «Kyoto Prize in Arts und Philosophy 2016» und den «Berggruen Prize for Philosophy and Culture 2018».

Martha Nussbaum, in Ihren jüngsten Arbeiten beschäftigen Sie sich intensiv mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Zorn – weshalb halten Sie das gegenwärtig für wichtig?

Lange dachte ich, Zorn sei wichtig für politischen Protest, doch bei eingehender Auseinandersetzung erkannte ich, dass dies falsch war. Zorn kann destruktiv und gefährlich sein, sowohl im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben, wenn er mit dem Wunsch nach Rache und Vergeltung verbunden ist.

Wir sollten uns von diesem Teil des Zorns trennen, aber jenen Teil beibehalten, der mit bewusstem Protest zu tun hat, der die Dinge verbessern will.

Es ist schwierig, über Gefühle des Zorns hinwegzukommen – wie kann das gelingen?

Als Erwachsener ist es sehr schwierig, die angelernten Muster und Gewohnheiten zu ändern. Nelson Mandela sagte, dass er 27 Jahre dafür brauchte – die Zeit, als er im Gefängnis war. Doch Veränderung ist möglich.

Wir müssen eine Kultur des Respekts für Fakten pflegen.

Wenn man etwa Rassismus betrachtet, gibt es grosse Fortschritte im Denken. Mein Vater war noch ein Rassist, weil die Umstände entsprechend waren. Aber die nächste Generation ist mit anderen Denkmustern aufgewachsen.

Wir haben in Europa und den USA zur Zeit mehrere populistische Bewegungen, die an den Zorn appellieren. Haben Sie Hoffnung, dass wir zu einer «Kultur der Gelassenheit» finden, die Sie fordern?

Bei schnellem gesellschaftlichem Wandel, wie wir ihn jetzt im Bereich der Automatisierung und der globalisierten Wirtschaft erleben, fühlen sich die Leute hilflos und haben Angst. Das wird leicht umgewandelt in Beschuldigung von anderen, im Sinn von: Die Einwanderer sind schuld.

Wir müssen eine Kultur des Respekts für Fakten pflegen. Wenn man die Fakten anschaut, sieht man, dass Einwanderer nicht überproportional viele Verbrechen in den USA begehen.

Was noch wichtiger ist: Wir müssen Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturen oder anderer sexueller Orientierung herbeiführen. Es bräuchte eine Art Zivildienst, damit die Leute aus ihrem Umfeld herauskommen.

Wenn man die Leute bewegen will, muss man an ihre Gefühle appellieren.

Ein Beispiel: Kürzlich haben sich in einer kleiner Stadt im US-Staat Wisconsin die Bewohner stark gemacht für illegale Einwanderer, die von der Polizei in einem Restaurant festgenommen wurden. Einfach, weil sie diese Menschen persönlich kannten und sie als menschliche Wesen wahrnahmen – und nicht als die stereotypen Horrorfilm-Monster, wie Trump sie beschreibt.

Die meisten Leute in den USA wollen die Mauer an der mexikanischen Grenze nicht, die er fordert. Ich glaube nicht, dass er damit durchkommt.

Sie haben einmal geschrieben, Politik muss an die Gefühle appellieren, um die Menschen zu erreichen. Das war vor dem Aufstieg der populistischen Bewegungen. Würden Sie diese Ansicht heute noch vertreten?

Ja, unbedingt. Abstrakte Prinzipien bewegen die Menschen nicht. Wenn man die Leute dazu bewegen will, gegen ihre unmittelbaren Eigeninteressen zu handeln, muss man an ihre Gefühle appellieren.

Ich habe in früheren Büchern etwa das Beispiel des New Deals studiert, eine Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen in den 1930er-Jahre, die darauf abzielten, die Situation armer Leute zu verbessern.

Franklin D. Roosevelt etwa hatte Fotografen beauftragt, Bilder von Armut zu machen, um das Mitgefühl für Mittellose zu wecken. Man muss die Leute dazu bringen, Gefühle für das Ziel zu empfinden, das man erreichen will.

Der Ausdruck «jemanden dazu bringen» beinhaltet auch die Gefahr der Manipulation. Müssten wir uns in Zeiten von Fake News und medialer Erregung nicht eher auf die Analyse konzentrieren als auf Emotion?

Wir brauchen beides. Zunächst braucht man gute politische Prinzipien. Roosevelt hatte gute Argumente für seine Forderung nach mehr sozialer Sicherheit, aber er wusste, dass er dieses Ziel nicht erreicht, ohne auch an die Emotionen zu appellieren.

Sie haben mehrfach gefordert, die Bildung zu stärken und Geisteswissenschaften und Künste zu fördern, weil sie demokratische Fähigkeiten fördern. Welche Fähigkeiten sind das?

Es sind im Wesentlichen drei Fähigkeiten. Erstens: In einer Demokratie muss man kritisch hinterfragen können – das, was Sokrates «das geprüfte Leben» nannte. Man muss in der Politik ein Argument überprüfen und gegebenenfalls widerlegen können.

In einer Demokratie muss man kritisch hinterfragen können.

Zweitens: Man muss in der Lage sein, sich in Menschen hineinzuversetzen, die anders sind als man selbst. Die Kunst und die Literatur können hilfreich sein, um die Empathie zu fördern, um andere Sichtweisen wahrzunehmen.

Und drittens: Man braucht ein Verständnis der Geschichte, um abschätzen zu können, wo wir heute stehen, und um die weltweite Politik zu verstehen. Diese drei Fähigkeiten müssen in der Schule und an der Universität unterrichtet werden.

Nun hat die USA gegenwärtig einen Präsidenten, der keine Bücher liest – wieviel Hoffnung haben Sie, dass solche Analysen überhaupt bei den Mächtigen ankommen?

Er ist ein sehr unüblicher Fall. Es gibt viele Politiker, die lesen und das Lesen öffentlich fördern. Doch dieser Aspekt von Trump gefällt vielen seiner Anhänger, weil sie selbst nie die Möglichkeit hatten, zur Universität zu gehen.

Das ist ein echtes Problem: In den USA sind die Universitäten extrem teuer, viele können sich das nicht leisten. Man müsste unbedingt den Zugang zur Bildung erleichtern.

Sie setzen sich schon lange mit dem Begriff der Gerechtigkeit auseinander – haben Sie den Eindruck, wir machen in dieser Sache Fortschritte?

Manche Länder ja, andere nein. Aber als Frau und Feministin glaube ich, dass es Fortschritt gibt – denken Sie daran, wo wir in dieser Sache vor 200 Jahren standen.

Heute gibt es mehr Frauen als Männer an der Universität, und das bringt ganz andere Konzepte in die Politik, in die Gerechtigkeit innerhalb der Familie, in die Angelegenheit der sexuellen Gewalt.

Sogar die Tatsache, dass wir darüber als Probleme sprechen, ist ein Fortschritt, weil wir heute eine Wahrnehmung dafür haben.

Das Gespräch führte Irene Grüter.

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