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Erfolgsautorin Elif Shafak «In Büchern haben wir noch Luft zum Atmen»

Elif Shafak glaubt an Demokratie und politische Vielfalt. Ihr neustes Buch «Unerhörte Stimmen» ist eine Hommage an alle Unangepassten – und ein Plädoyer für die Rechte von Frauen in einer von Männern dominierten Welt.

Was das Schweigen erzählt und wie Worte in der Türkei gegenwärtig zu Stolpersteinen werden – ein Gespräch mit der Erfolgsautorin.

Elif Shafak

Autorin

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Die Schriftstellerin Elif Shafak ist in der Türkei aufgewachsen. Sie lebte lange in Istanbul, promovierte in Politikwissenschaften und lebt heute in London. Sie gehört zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei. Ihre Romane wurden in viele Sprachen übersetzt.

SRF: Warum machen Sie in Ihrem neuen Buch gesellschaftliche Aussenseiter zu Hauptfiguren?

Elif Shafak: Ich selber habe mich als Aussenseiterin gefühlt – seit ich ein Kind bin. Immer fühlte ich mich als «die Andere».

Ich habe mich den «Anderen» auch immer nahe gefühlt. Denen, die an den Rand der Gesellschaft geschoben werden – aus was für Gründen auch immer. Ich wollte ihre Stimmen hören, ihre Geschichten.

Ich will Menschen ohne Stimme eine Stimme geben.

Als Schriftstellerin geht es mir natürlich um Geschichten. Aber wir sollten uns auch für das Schweigen interessieren. Mir geht es darum, den Menschen ohne Stimme eine Stimme zu geben.

Sind Sie darum in der Türkei in Schwierigkeiten geraten?

Man gerät so leicht in Schwierigkeiten, wenn man mit Worten zu tun hat. Am schwierigsten ist es für die Journalistinnen und Journalisten. Die Türkei hat so viele von ihnen ins Gefängnis geworfen, wie kaum ein anderes Land – sogar mehr als Russland oder China.

Sie finden auch offene Worte für Zwangsheirat und Gewalt gegen Frauen.

In den letzten Jahren gab es eine starke, eine 1400-prozentige Zunahme der Gewalt gegen Frauen. Um dieses Problem müssen wir uns kümmern. Ausserdem ist in der Türkei bei jeder dritten Heirat eine Kindbraut involviert.

Der Gesetzgeber denkt sich schreckliche Dinge aus: So wurde kürzlich versucht, ein Gesetz durchzubringen, das die Strafe für einen Vergewaltiger senken sollte, wenn er sich bereit erklärt, sein Opfer zu heiraten. Als würde der Täter dem Opfer damit einen Gefallen erweisen!

Das ist die Mentalität, gegen die wir Frauen kämpfen müssen. Das Traurige ist: Anstatt die patriarchalen Gesetze abzuschaffen, anstatt Frauen im Gerichtssaal zu unterstützen oder Frauenhäuser einzurichten, nehmen sie Schriftstellerinnen ins Visier, die diese Probleme thematisieren. Das macht mich traurig.

Buchhinweis

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  • Elif Shafak: «Unerhörte Stimmen», Kein & Aber 2019

In Shafaks neustem Roman, der im Mai auf Deutsch erschienen ist, durchlebt eine ermordete Prostituierte kurz vor ihrem letzten Atemzug noch einmal ihr Leben und ihren Tod.

Wie erleben Sie Ihre Rolle als Schriftstellerin in dieser patriarchalen Gesellschaft?

Ich glaube, dass es für eine Schriftstellerin schwieriger ist als für einen männlichen Kollegen. Bei einem Schriftsteller spricht niemand über sein Geschlecht.

Doch eine Schriftstellerin ist primär eine Frau. Man schaut auf dich runter, macht dich klein – es ist ein permanenter Kampf. Wenn eine Frau über Sexualität schreibt, wird sie angegriffen und beschimpft. Sie selbst sei schamlos, «obszön», heisst es dann.

Als Schriftstellerin schaut man auf dich runter, macht dich klein. Es ist ein permanenter Kampf.

Ich erhalte tausende solcher Beschimpfungen auf Social Media oder in regierungsnahen Zeitungen, in Kolumnen von Traditionalisten und Islamisten. Das finde ich inakzeptabel. Das Paradoxe daran: Die Leute, die mich beschimpfen, lesen keine Romane.

Ein Poster von elif Shafak wird zertrampelt.
Legende: Eine Frau trampelt auf ein Shafak-Plakat. Dies nachdem ein Gericht 2006 davon absah, die Autorin wegen «Beleidigung der Türkei» zu verurteilen. Keystone / Tolga Bozoglu

Ihre Romane sind Fiktion. Was erzürnt die Menschen daran?

Dass es in Büchern noch so etwas wie Meinungsfreiheit und Freiheit der Imagination gibt.

Denn der Journalismus wurde weitgehend zerstört. Die Universitäten stehen unter Druck, ebenso die Zivilgesellschaft. Soziale Medien werden weitgehend kontrolliert. Es gibt 60'000 Anzeigen wegen Präsidentenbeleidigung. Sogar wenn du als Teenager etwas auf Facebook postest, kannst du verfolgt werden.

Die Türkei hat sich mehr und mehr rückwärts entwickelt, je autoritärer die Regierung wurde. Bücher gehören zu den letzten Räumen, wo wir noch Luft zum Atmen haben.

Das Interview führte Anna Gossenreiter.

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