«Die Uhr kann gehen», schreibt der Zeitforscher Karlheinz Geissler in seinem neuen Buch. Die Uhrzeit sei ein Relikt aus anderen Zeit, heute habe sie ausgedient.
Wir leben heute flexibler, konsumieren Medien, wann wir wollen – nicht mehr nach dem vorgegebenen Programm. Wir arbeiten mit gleitenden Arbeitszeiten und sind die Läden geschlossen, shoppen wir online weiter.
Hat die letzte Stunde der Uhr wirklich schon geschlagen? Ein Gespräch über den Terror des Durchgetakteten, flexible Freiräume und Pünktlichkeit als moralisches Auslaufmodell.
SRF: Ihr neuestes Buch heisst «Die Uhr kann gehen». Weshalb sollte sie?
Karlheinz Geissler: Die Uhr scheitert gerade an ihrem Erfolg. Sie ist 600 Jahre lang äusserst erfolgreich gewesen und hat uns Wohlstand gebracht – dadurch, dass wir dank ihr Zeit in Geld verrechnen konnten.
Die negativen Folgen dieser Uhrzeit werden erst jetzt richtig sichtbar. Wir merken inzwischen die Trennung von der Natur-Zeit, die wir durch die Uhr vollzogen haben. Diese Trennung bekommen wir heimgezahlt: durch ökologische Probleme, durch Stress und andere Gesundheitsprobleme.
Sie selbst tragen seit über 30 Jahren keine Uhr mehr. Sind Sie nie zu spät gekommen?
Ich versuche natürlich, nicht zu spät zu kommen. Ich komme tendenziell eher zu früh, was ja auch unpünktlich ist.
Aber das tue ich auch, weil ich gerne warte. Warten ist für mich eine äusserst produktive Zeit. Deshalb halte ich nichts davon, Pünktlichkeit für den grossen moralischen Wert zu halten, nach dem man diese Gesellschaft organisiert.
Der Mensch besitzt nun mal aber von Natur aus heute kaum mehr ein Zeitgefühl. Brauchen wir als Gesellschaft nicht die Uhrzeit als gemeinsames Regulativ?
Ja, wir brauchen eine Ordnung, eine Vorstellung von Zeit. Das brauchte ein Bauer im 14. Jahrhundert nicht. Der hat der Kirche und der Natur vertraut, die ihm die Zeiten vorgaben.
Heute sind wir glücklicherweise weiter. Wir organisieren selbst Zeit und Zeiträume. Diese Organisation braucht ein Muster. Die Frage ist nur: Welches Muster nehmen wir?
Die Uhr ist zu schlicht und zu einfach für die heutige hochkomplexe Gesellschaft.
Das der Uhr ist zu schlicht und zu einfach für die heutige hochkomplexe Gesellschaft. Wir brauchen unterschiedliche Vorstellungen, wie sich die Zeit organisieren lässt. Wenn wir dafür nur die Uhr haben, leben wir sehr mechanisch und haben kaum Zeiten, die wir geniessen können.
Was verändert sich, wenn wir uns nicht mehr nur an der Zeit ausrichten, die von der Uhr vorgegeben wird?
Wir werden dadurch nicht vom Zeitdruck und vom Stress befreit. Aber plötzlich sind ganz andere Firmen und Modelle erfolgreich als früher.
So muss sich etwa die Bahn neu erfinden. Schon heute ist es so, dass sie zum Bahnhof gehen können, ohne in den Fahrplan zu schauen: Früher oder später bekommen sie den Zug, den sie wollen. Auch beim TV-Programm müssen sie nicht mehr auf die Uhr schauen, um eine Sendung zu sehen – weil sie alles im Netz finden und abfragen können, wann immer sie Lust haben.
Die Flexiblen machen heute Karriere, nicht mehr die Pünktlichen.
Die Welt hat sich viel stärker auf Flexibilität ausgerichtet. Die Flexiblen machen heute Karriere, nicht mehr die Pünktlichen. Pünktlichkeit wird nicht mehr belohnt. Von daher empfehle ich zum Beispiel auch in der Schule Gleitzeit einzuführen.
Der Untertitel Ihres Buches lautet «Das Ende der Grausamkeitskultur». Hat die Uhr uns denn in Ketten gelegt?
Natürlich – wir haben bisher nach der Uhr funktionieren müssen. Unsere ganze Arbeitsorganisation war auf Uhrzeit hin ausgerichtet. Die Uhr hat gesagt: Um 7 Uhr wird hier dichtgemacht, nicht wenn es dunkel wird.
In unserem Handeln und unserem Tun mussten wir gehorsam sein gegenüber der Zeit – gegenüber der Maschine, gegenüber dem Fahrplan, gegenüber einem Radioprogramm, gegenüber der Bürokratie.
Dieses Modell steht heute zum Glück unter Druck. Absolute Ladenschlusszeiten gibt es nicht mehr. Banköffnungszeiten gelten nicht mehr – sie können durch den Bankomaten Tag und Nacht an ihr Geld kommen. Dasselbe lässt sich auch in anderen Bereichen beobachten: Die Zumutungen der Uhrzeit werden abgebaut.
Weshalb empfinden wir strikt geregelte Zeiten als Zumutung?
Das Zeitmodell der Uhr ist der Takt – und dieser Takt heisst Wiederholung ohne Abweichung. Jede Maschine ist getaktet. Die Bahn ist getaktet. Der Fahrplan ist getaktet. Aber wie wir wissen, lässt er sich nicht immer einhalten. Die Taktung nach der Uhrzeit ist ein Ideal – aber jeder scheitert daran.
Auch die Bürokratie ist letztlich nichts anderes als sozial umgesetzte Uhrzeit. Weil sie so getaktet ist, ist die Bürokratie uns auch lästig, und wir wollen sie los sein.
Wir Menschen sind eher rhythmisch organisiert – und wir brauchen Zeiten, in denen wir diesen Rhythmus leben können. Deshalb zum Beispiel sind alle Grossstädter sehr erpicht darauf, am Wochenende in die Natur zu fahren. Dort finden sie wieder Kontakt zu einer nicht vertakteten Lebensweise, nämlich die der Natur. Sie füllen ihre Akkus wieder durch Rhythmus auf und nicht durch Takt.
Wie kommt es, dass viele Menschen heute glauben, die Zeit vergehe immer schneller – obwohl wir eigentlich so viel Freizeit haben wie noch nie?
Die Zeit vergeht nicht immer schneller. Sondern wir tun immer mehr in der gleichen Zeit. Besonders die neuen Technologien halsen uns das auf. Diese versuchen, Zeit in Geld zu verrechnen; nicht durch Schnelligkeit, sondern durch Verdichtung.
Die Zeit vergeht nicht immer schneller. Sondern wir tun immer mehr in der gleichen Zeit.
Das heisst: Sie ermöglichen es uns, immer mehr Dinge zur gleichen Zeit zu machen. Dieser Zeitdruck wird in Zukunft noch zunehmen.
Sehen Sie einen Ausweg aus diesem Zeitdruck?
Man kann auf Geld und Güterwohlstand verzichten und sich Auszeiten nehmen, zum Beispiel ein Sabbatical. Dieses Bedürfnis, Auszeiten zu nehmen, wird immer grösser in der Gesellschaft. Die Menschen sind auch eher bereit, auf Geld zu verzichten, um mehr Zeit zu haben.
Dazu gehört auch, dass wir bereit sind, Tätigkeiten zu bezahlen, die nicht direkt dem ökonomischen System zugute kommen.
Ein Beispiel ist die Elternzeit: Inzwischen gibt es Gesetze, die erlauben, dafür aus dem Produktionsprozess auszusteigen und sozusagen anderswo produktiv zu sein, also in der Kindererziehung. Das wurde früher ja nicht bezahlt. Genauso ist eine Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen nur jenseits des «Zeit ist Geld»-Denkens möglich.
A propos Auszeit: Kann man eigentlich Zeit sparen?
Zeit kann man nur in der Vorstellung sparen, also in Geld umgerechnet. Aber real kann man keine Zeit sparen.
Zeit gibt es nur im Moment. Zukünftige oder vergangene Zeit ist nicht zu haben. Heute Zeit sparen, um sie morgen irgendwie zu leben: Das geht nicht. Das ist eine Illusion, die produktiv sein kann für die Ökonomie, aber nicht fürs Leben.
Für die Menschen waren die Zeiten nicht unbedingt besser, als sie mit den Hühnern schlafen gegangen und vom Hahnkrähen aufgewacht sind. Die Uhr hat doch auch Vieles zum Positiven verändert?
Natürlich sind die Menschen durch die Uhr unabhängiger von der Natur geworden. Sie müssen sich etwa nicht mehr so stark an Wetter und Naturkatastrophen ausrichten. Diese Unabhängigkeit gibt ihnen ein Stück Souveränität.
Zeit gibt es nur im Moment. Zeit sparen ist eine Illusion.
Das gilt auch für die eigene Natur und den eigenen Körper. Gerade im Alter gewinnen wir viele Möglichkeiten dazu, weil wir nicht mehr so stark von der Natur abhängig sind.
Aber die Möglichkeiten, die die Uhr bereitgestellt hat, sind heute schlichtweg weitgehend ausgeschöpft. Wir brauchen neue Impulse, um noch länger zu leben und noch besser zu werden. Und diese Impulse liefert nicht mehr die Uhr. Das ist meine Botschaft.
Das Gespräch führte Hansjörg Schultz.