Seine Frau und nicht weniger als fünf Kinder liess der Maler Paul Gauguin im Stich, um Ende des 19. Jahrhunderts in Tahiti Künstler zu sein. Auf der Südseeinsel malte er die berühmten Bilder, die ihn noch heute zu einem der bekanntesten Maler der Welt machen.
War sein Entscheid also richtig? Zählen Frau und Kinder nichts, wenn einer ohne sie der modernen Kunst entscheidende Impulse verleiht? Gibt uns der Erfolg immer Recht?
Auf Anstandsregeln pfeifen
Darüber lohnt sich nachzudenken und «Filosofix» , die SRF-Serie animierter Kurzfilme mit philosophischen Knacknüssen, tut es. Aber: wenn es um Gauguin und seinen Abgang nach Tahiti geht, gilt es, noch ein paar weitere Fragen zu stellen.
Denn Gauguin war bei weitem nicht der einzige Künstler, der ausbrach. Die bürgerliche Existenz mit einem gesicherten Einkommen hinter sich lassen und ein Leben zu führen, das auf Anstandsregeln pfeift – das gehört zum Künstlersein dazu.
(Es soll hier im Folgenden tatsächlich ausschliesslich um männliche Künstler gehen, denn: bei Künstlerinnen wird es nochmals komplizierter.)
Arm, frech, anders
Der Ausbruch aus der bürgerlichen Existenz gehört einerseits zum Künstler-Dasein. Der Ausbruch gehört aber andererseits zur Rolle, die eine Gesellschaft aus Nicht-Künstlern ihren Künstlern zuweist.
Sie werden als Künstler gerade dadurch anerkannt, dass sie als Angehörige der Bohème arm und frech sind in ihren kalten Dachkammern.
Arbeit am Mythos
Woher kommt diese Pflicht zum anti-bürgerlichen Verhalten, die eine bürgerliche Gesellschaft ihren Künstlern zuweist? Sie hat wohl damit zu tun, dass Ende des 18. Jahrhunderts die Zeit der Hofkünstler abläuft.
Künstler suchen neue Strategien, um sich auch ohne feudale Auftraggeber über Wasser zu halten. Das bedeutet: Anpassung an die neue Käuferschicht und PR oder anders gesagt: nachhaltige Arbeit am Mythos.
Was ist gut? Was kann weg?
Denn jetzt muss bürgerlichen Kunstkäufern erklärt werden, warum die Kunst ihr Geld wert ist. Die neuen Abnehmer wissen im Gegensatz zu vielen Fürsten nämlich, wie sauer verdient dieses Geld ist.
Künstler brauchen also gute Argumente, warum ihre Kunst das Geld wert ist. Das beste darunter ist Qualität: Gute Kunst ist ihr Geld wert.
Bloss: wer sagt, was gut ist, wenn Kunstschulen ihren Einfluss verlieren und der Status des gefragten Hofkünstlers nicht mehr existiert?
Etablierte Qualitätskriterien fallen Ende des 18. Jahrhunderts wie die höfischen Auftraggeber weg. Im Vakuum wird experimentiert: Eine Strategie ist Aufmerksamkeit zu erregen mit eigentlichen Skandalbildern; eine andere zum Messias zu werden.
Kunst vor Familie
Das entbehrungsreiche Leben eines Künstlers, der alles für die Kunst opfert und rücksichtslos nur für seine Kunst lebt, wird in einem komplexen Aushandelsprozess zwischen Künstlern, Kunstkritik und Gesellschaft zu einem starken Indiz für Qualität – und ist es noch immer.
Um gute Kunst zu machen, pfeift der Künstler auf Anstandsregeln und auf ein gesichertes Einkommen. Und wenn es sein muss, lässt er eben auch Frau und Kinder in Frankreich zurück wie Paul Gauguin.
Das gemalte Paradies
Das war natürlich ein Tabubruch nach den Regeln der bürgerlichen Gesellschaft. Doch dieser Tabubruch wurde von Gauguin gesellschaftlich erwartet. Er hatte sich, um als guter Künstler wahrgenommen zu werden, ja anti-bürgerlich zu verhalten.
Es gilt also nicht nur Gauguins Verhalten zu bewerten, sondern auch den Kontext, der Gauguins Handeln gewissermassen salonfähig machte.
Die Ironie der Geschichte ist, dass Gauguin in der Südsee keineswegs glücklich wurde und immer wieder nach Paris zurückkehrte. In seinem Leben lief so ziemlich alles schief, bis kurz vor seinem Tod hat er als Künstler schlecht verkauft, und: Das ursprüngliche Leben, das er auf den polynesischen Inseln zu finden hoffte, gab es nicht mehr. So erschuf er das Paradies, das er suchte, auf seinen Bildern.