Zum Inhalt springen

Gewalt gegen Frauen «Wir leben in einer patriarchal geprägten Gesellschaft»

Nach dem Mord an einer Studentin in der Türkei protestieren tausende Frauen gegen Femizide und für ein härteres Durchgreifen gegen die Täter. Als Zeichen der Solidarität posten Frauen weltweit auf Instagram unter dem Hashtag #challengeaccepted Selbstporträts in Schwarzweiss – wie die Fotos der ermordeten Frauen, die nach den Taten durch die Medien gehen.

Femizide sind auch in der Schweiz ein Problem: Durchschnittlich alle zwei Wochen wird eine Person ermordet. Drei Viertel der Opfer sind Frauen. Dazu kommt durchschnittlich jede Woche ein Mordversuch an einer Frau. Das Bewusstsein dafür, dass in der Schweiz Menschen aufgrund ihres Geschlechts sterben, sei klein, sagt Expertin Simone Eggler.

Simone Eggler

Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Simone Eggler ist Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt und arbeitet bei Terre des Femmes Schweiz.

SRF: Durchschnittlich wird in der Schweiz alle zwei Wochen eine Frau ermordet. Wieso hört man so wenig darüber?

Simone Eggler: Das Bewusstsein dafür, dass in der Schweiz Menschen aufgrund ihres Geschlechts sterben, ist tatsächlich klein. Jede Woche überlebt eine Frau mindestens einen solchen Angriff. Es stellt sich die Frage. Wollen wir das nicht sehen? Oder mangelt es an Informationsarbeit?

Wie kann man diese Problematik im öffentlichen Bewusstsein stärken?

Von staatlicher Seite und auch von der Polizei müsste klar kommuniziert werden: Diese Frau ist getötet worden, weil sie eine Frau ist. Ein Femizid ist keine «Tragödie», kein «tragisches Ereignis» ohne verantwortliche Person.

Wenn man einen solchen Mord beispielsweise als «Beziehungstat» bezeichnet, schwingt oft mit, dass das Opfer eine gewisse Schuld trägt. Es gibt viele stereotype Vorstellungen. Zum Beispiel: Sie hat ihn provoziert, sie hätte ihn nicht eifersüchtig machen müssen.

Das ist gefährlich, denn dann schauen wir nicht wirklich hin, was das eigentliche Problem ist. Nämlich, dass Männer Frauen töten, weil sie gelernt haben, dass sie ein Recht darauf haben. Oder weil sie nicht gelernt haben, andere Wege in Konflikten zu suchen.

Der Grund für diese Taten ist das Geschlecht. Was sind die dahinterliegenden Ursachen?

Auch in der Schweiz leben wir in einer patriarchal geprägten Gesellschaft. Das bedeutet, dass wir lernen, dass nicht alle Menschen gleichwertig sind. Und das zeigt sich in Form von Gewalt an Frauen. Die individuellen Gründe dahinter sind komplexer, jeder Fall ist anders.

In der sogenannten Istanbul Konvention des Europarats hat sich die Schweiz dazu verpflichtet, mehr zu tun, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern und die Strafverfolgung zu verschärfen. Reicht das?

Die Istanbul Konvention ist ein ganz wichtiges Instrument, Gewalt an Frauen in der Schweiz in Zukunft vorzubeugen. Wir beobachten bereits erste positive Effekte. Sowohl von staatlicher als auch von nichtstaatlicher Seite wird besser zusammengearbeitet. Diese Konvention wird ernst genommen.

Aber es gibt noch viel zu tun, insbesondere im Bereich der Prävention – Kampagnenarbeit, Informationsarbeit, Bildungsarbeit. Rund um den Lehrplan 21 wurden Diskussionen geführt, ob zum Thema Gender gearbeitet werden muss oder nicht. Das Wort «Gender» wurde schliesslich herausgestrichen. Das zeigt, dass die Problematik noch viel zu wenig im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist. Denn Gleichstellungsarbeit ist immer auch Gewaltprävention.

Das Gespräch führte Katharina Brierley.

Kultur aktuell, Radio SRF 2 Kultur, 3.8.2020, 6.50 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel