Tom Segevs Thesen haben es in sich: Israel trage eine Mitschuld an der Vertreibung der Palästinenser nach der Staatsgründung. Die Besetzung der Palästinensergebiete nach dem Sechstagekrieg sei ein Fehler gewesen, und die Verantwortlichen hätten es gewusst.
Und schon den Staatsgründern sei klar gewesen: Ein gleichwertiges Miteinander von Araberinnen und Juden ist unmöglich. Damit Israel überleben kann, müssten die Araber besiegt werden.
Wenig Gegenliebe
Wer derartige Thesen vertritt und sie in Büchern mit historischen Quellen belegt, stösst in Israel auf wenig Gegenliebe. Immer wieder wurde Tom Segev denn auch als Nestbeschmutzer bezeichnet.
Für den Historiker keine Überraschung. Denn in Israel werde heftig um die Identität gestritten: «Wir können uns nicht einigen, wer wir sind und wer wir sein wollen. Da ist die Geschichtsschreibung eine absolut politische Tätigkeit.»
Das hält den 74-jährige Historiker allerdings nicht von seiner Arbeit ab – im Gegenteil: «Ich schreibe, was die Dokumente mir sagen.»
Von Mythen zur Geschichte
Tom Segev gehört zu den «Neuen Historikern», einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in den 1980er-Jahren begannen, die Gründungsmythen der israelischen Geschichte zu hinterfragen.
«Vor den 1980er-Jahren gab es in Israel keine Geschichtsschreibung, sondern nur Mythologie und Indoktrinierung», sagt Tom Segev. Denn erst 1980 wurden die ersten Dokumente über die Staatsgründung zugänglich.
Bewunderung für die Schweiz
Tom Segev schaute sich als erstes die Dokumente aus dem Jahr 1949 an – dem Jahr nach der Staatsgründung. «Ich begann zu lesen und dachte mir: So haben wir es in der Schule aber nicht gelernt.»
Also begann Tom Segev die Dokumente auszuwerten und schrieb Bücher über die Zeit unmittelbar vor der Staatsgründung Israels, über den Sechstagekrieg und über den Staatsgründer David Ben Gurion.
«Er hat die Schweiz bewundert für ihre Sicherheit und Stabilität», erzählt Tom Segev. «Er hat sich gar überlegt, Kantone einzuführen – einen Kanton für die Araber und einen für die Juden.»
Kritik erwünscht
Tom Segevs Bücher sind stets dick und gespickt mit Hinweisen auf historische Quellen, lesen sich aber leicht. «Was nützt ein Buch, wenn es in dann nur in der Bibliothek steht», sagt der Historiker.
Segevs Werke sind im Ausland beliebt und werden in 15 Sprachen übersetzt – von Deutsch bis Chinesisch. Doch seine Kritik an der israelischen Geschichte wird auch von notorischen Israelhassern aufgegriffen – sehr zu seinem Leidwesen: «Ich fühle mich dann zu Unrecht ausgenutzt», sagt Tom Segev.
Doch das hält ihn nicht davon ab, weiterhin Kritik zu üben. Und das wünscht er sich auch aus dem Ausland: «Man darf Israel im Ausland genauso kritisieren wie im Inland.»
Gerade der Druck aus dem Ausland helfe, Menschenrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten.