15 Kilo hat Oleg Senzow inzwischen verloren: Er ist 1,90 Meter gross und wiegt noch 72 Kilo. Seit 121 Tagen ist der 42-jährige ukrainische Regisseur im Hungerstreik. Wie lange noch?
Wer Oleg Senzow kennt, ist überzeugt: Er wird nicht aufgeben. Er will, dass alle der 70 politischen Gefangenen aus der Ukraine in Russland freigelassen werden.
Oleg Senzow selbst wurde im Frühjahr 2014 auf der Krim verhaftet. Der Grund: Russland wirft dem Regisseur vor, nach Annexion der Halbinsel Anschläge geplant zu haben – auf das Lenin-Denkmal in der Krim-Hauptstadt Simferopol und auf das Büro der Partei «Einiges Russland».
An dieser Version gibt es ernsthafte Zweifel.
Ein abschreckendes Exempel
Die Anklage stützt sich auf Zeugenaussagen, die unter Folter zustande gekommen sind. Wahrscheinlicher ist, dass der Regisseur aus einem anderen Grund verhaftet wurde.
Er versorgte die in Kasernen eingeschlossenen ukrainischen Soldaten während der Annexion mit Medikamenten, Lebensmitteln und Benzin. Zudem konnte das Putin-Regime ein abschreckendes Exempel auf der Krim gut gebrauchen.
So weit weg wie möglich
Senzow sitzt im Straflager «IK-8 Weisser Bär» in Labytnangi ein. Ein weltentrückter Ort nahe der Arktis: Während der Sommermonate, wenn der Permafrost taut, ist Labytnangi nur mit dem Helikopter zu erreichen.
Dreimal im Jahr darf er Besuch empfangen. Seine Familie will er aus Rücksichtnahme lieber nicht sehen. Für alle Beteiligten wäre ein solches Treffen zu herzzerreissend.
«Mutter eines Terroristen»
Oleg Senzow ist alleinerziehender Vater einer jugendlichen Tochter und eines an Autismus erkrankten Sohnes. Die Kinder wachsen bei Oleg Senzows Mutter Ljudmila auf. Sie hat ein Gnadengesuch für ihren Sohn bei Präsident Wladimir Putin gestellt, aber das blieb unerhört.
In einem Interview mit dem russischen Fernsehsender Doschd erzählt sie, dass die Nachbarn sie als «Mutter eines Terroristen» beschimpfen. Niemand stehe ihr bei. Und dass ihr Schwager und ihr ältester Enkel beim russischen Geheimdienst FSB arbeiteten, mache alles eher nur noch schlimmer.
Die Filme ihres Sohnes hat Ljudmila Sentsowa nie gesehen. Dafür kennt sie alle Geschichten auswendig, die ihr Sohn schreibt.
Spieler, Mörder, Einzelkämpfer
In einem Interview erzählte Oleg Senzow, dass er früh mit dem Schreiben begonnen habe. «Als Kind habe ich gute Aufsätze geschrieben. Dann habe ich angefangen, nachts Erzählungen zu schreiben: ein grosser Roman, Theaterstücke und Drehbücher. In meinem Kopf tauchten immer wieder Bilder auf, die mich in meinem Leben gestört haben. Damit das aufhört, musste ich sie in Filme umsetzen.»
Es sind Bilder von Menschen in Extremsituationen, die Oleg Senzow umtreiben. Spieler, Mörder, Verlorene, Einzelkämpfer.
Filme, so realistisch wie möglich
Nach einem Studium der Ökonomie in Kiew besuchte Oleg Senzow Regie- und Drehbuchkurse in Moskau. Der Durchbruch als Regisseur gelang ihm 2012 mit seinem Spielfilm-Debut: «Gamer», eine preisgekrönte Low-Budget-Produktion mit Laienschauspielern.
Im Zentrum steht ein junger Cosplayer, der um sich herum alles vergisst. In den Film sind viele eigene Erfahrungen eingeflossen. Der Regisseur hat selbst über Jahre in Simferopol einen Computerclub betrieben. Sein filmisches Credo lautet denn auch: So viel Realismus wie möglich.
Ein ungleicher Kampf
Auf den Schwingen des Erfolgs von «Gamer» arbeitete der Regisseur gleich weiter an einem zweiten grossen Film. «Das Nashorn», ein Psychodrama über einen Mörder, blieb jedoch unvollendet: Oleg Senzow wurde verhaftet und zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt.
Dem Freiheitsentzug widersetzt sich der Regisseur mit dem einzigen Mittel, das ihm verbleibt – dem Hungerstreik. Es ist ein Kampf gegen Russland. Ein ungleicher Kampf: Oleg Senzow hat seiner Cousine geschrieben, dass er nicht an einen guten Ausgang glaubt.