Trauern ist so alt wie die Menschheit. Doch das Gefühl der Trauer hat immer weniger Platz in unserer Gesellschaft. Es fehlt schlicht die Zeit.
Bei einem Todesfall bekommen wir drei Tage Urlaub. Bei einer Scheidung keinen. Wir müssen schnell wieder funktionieren und uns notfalls mit Pillen behelfen. Antidepressiva haben Hochkonjunktur. Glücksratgeber ebenso.
Positiv denken, lautet das Motto. Das Schicksal selbst bestimmen, unglückliche Ereignisse als Chance für einen Neuanfang sehen. Immer vorwärts, immer weiter.
Trauer gehört zum Leben
Dass uns heutzutage zum Trauern kaum noch Zeit gelassen wird, findet die Schweizer Psychologin Verena Kast unmenschlich. «Der Trauerprozess ist ein ungeheurer Entwicklungsprozess, der weh tut», meint Kast.
Aber er gehöre zum menschlichen Leben dazu. Wir können und sollten ihn weder umgehen noch beschleunigen oder optimieren.
Der Philosoph Wilhelm Schmid geht in seinem Buch «Unglücklich sein» noch einen Schritt weiter. Entgegen der gegenwärtigen Maxime des Glücklichseins sollten wir Menschen uns klar machen, dass auch das Unglücklichsein zum Leben dazu gehört, sagt er.
Hilflosigkeit, wenn jemand stirbt
Wer in der Illusion lebt, immer glücklich sein zu können oder sein zu müssen, wird schnell aus der Bahn geworfen. Denn das Unglück gehört zum Leben, meint Schmid. Darüber hinaus ist es für unsere Entwicklung von grosser Bedeutung, durch schwere oder gar depressive Phasen für das Leben zu lernen. Auch durch die Trauer.
Obwohl der Tod das Natürlichste der Welt ist, sind wir gelähmt und hilflos, wenn er eintritt. Für Verena Kast ist das keine Überraschung: «Wir können uns nur kognitiv auf den Tod eines Menschen vorbereiten, nicht emotional», meint die Psychotherapeutin.
Wärme, Geborgenheit, eine Umarmung
Die plötzliche Abwesenheit der geliebten Person lässt sich emotional nicht vorwegnehmen. Zudem machen wir uns in unserer individualistischen Zeit zu selten klar, wie wichtig andere Menschen für uns sind.
Wir denken meist an Probleme und Schwierigkeiten, die wir mit einer Person haben, nicht an die Geborgenheit, Hilfe und Anregung, die wir erhalten.
Auch beim Trauerprozess selbst zeigt sich: Wir Menschen sind Beziehungswesen. Am Anfang brauchen wir Wärme, Geborgenheit, eine Umarmung. Später wollen wir reden und uns mitteilen, meint Verena Kast. Es gehe darum, den Schmerz zu artikulieren, ihn mit den Nächsten zu teilen.
Gesellschaft ohne Rituale
Halt geben können neben der Gemeinschaft auch Rituale. Vom Mittelalter bis zur Neuzeit hinweg waren solche von grosser Bedeutung. Aufgrund der Säkularisierung sind viele dieser Rituale jedoch weggefallen. Die Trauer ist weitgehend zu einer privaten Angelegenheit geworden, bis auf die Beerdigung vielleicht.
Rituale sind für die Trauenden allerdings ungeheuer wichtig, meint Wilhelm Schmid. Sie stammen aus einer anderen Zeit und führen uns vor Augen: Es gab eine Zeit vor uns, so wie es eine Zeit nach uns geben wird.
Sie räumen dem Gefühl der Trauer aber auch einen festen Platz in der Gesellschaft ein. Heute fühlen sich viele Menschen mit ihren negativen Gefühlen allein gelassen, meint Schmid.
Wo kein Trauern, da keine Liebe
Sowohl Verena Kast als auch Wilhelm Schmid betonen: Wir müssen heute wieder lernen zu trauern. Mensch zu sein heisst, abhängig zu sein. Hin und wieder traurig zu sein. Sterblich zu sein. Das wird sich weder mit Pillen noch mit Glücksratgebern ändern.
Das Gefühl der Trauer zeigt uns, dass uns etwas am Herzen liegt. Wo keine Liebe, da kein Trauern – aber eben auch: wo kein Trauern, da keine Liebe.