Chemnitz hätte Kulturhauptstadt Europas 2025 werden sollen. Nach vielen Vorentscheiden durch eine Jury wäre die Wahl nur noch Formsache gewesen. Nun hat ein Artikel der Süddeutschen Zeitung enthüllt, dass die Vergabe unter fragwürdigen Umständen zustande gekommen sein soll.
Dabei agiere «bis in die Jury hinein ein internationales Friends-and-Family-Netzwerk, dessen Machenschaften an Organisationen wie IOC oder Fifa erinnern. Auffallend oft sind dieselben Experten, Berater und Kulturmanager am Werk; in wechselnden Rollen, Funktionen und Konstellationen. Sie spielen sich geschickt die Bälle zu und verdienen gut daran», schreibt die Süddeutsche Zeitung.
Kulturwissenschaftlerin Kristina Jacobsen hat eine Dissertation zu den Kulturhauptstädten geschrieben und schätzt den Skandal ein.
SRF: Chemnitz sollte Kulturhauptstadt 2025 werden. Nun aber wurde der definitive Entscheid in den Januar vertagt. Überrascht Sie das?
Kristina Jacobsen: Mit dieser Vertagung hat niemand gerechnet. Und ich denke, das wird viele schockieren. Alles geht zurück auf einen Artikel von Journalist Uwe Ritzer aus der Süddeutschen Zeitung , der einiges ins Rollen gebracht und einiges infrage gestellt hat, was vorher der Öffentlichkeit nicht bekannt war.
Man konnte in der Süddeutschen Zeitung und auch in anderen deutschen Medien lesen, die Vergabe der Kulturhauptstadt sei ein abgekartetes Spiel. Es gibt Berater, die genau wissen, mit welchen Ideen man die Jury abholen kann. Stimmen diese Vorwürfe?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Das wäre alles ein bisschen zu pauschal. Gegen einen Berater, der der Stadt hilft und den Blick von aussen hat, ist grundsätzlich nichts zu sagen. Und dass es eben einige Berater gibt, die sich darauf spezialisiert haben, ist auch völlig in Ordnung.
Der Skandal ist, dass Verträge im Hinterzimmer geschlossen wurden.
Der Skandal ist vielmehr, dass Verträge scheinbar im Hinterzimmer geschlossen wurden und die Öffentlichkeit nicht wusste, dass grosse Summen im Spiel waren. Die Auswahljury muss jetzt sehen, wie sie mit diesem Fall umgeht.
Es werden ja immer relativ unbekannte Städte zur Kulturhauptstadt gewählt. Unbekannt, vor allem hinsichtlich ihres kulturellen Angebots. Ist das Konzept?
Die Initiative «Kulturhauptstädte Europas» besteht seit 35 Jahren und hat sich natürlich weiterentwickelt. Am Anfang war sozusagen das Gegenteil der Fall: Da waren die kulturell sehr begüterten Städte Kulturhauptstädte – Athen, Paris und so weiter. Die holten ihre kulturellen Schätze hervor und haben sie der Öffentlichkeit präsentiert.
Mittlerweile hat sich Sinn und Zweck dieses Projektes komplett gewandelt. Es geht mehr um eine kulturelle Entwicklungsstrategie, dass man Kultur als Instrument für Stadtentwicklung benutzt, im Idealfall für Kultur geprägte Stadtentwicklung. Diese Zielgebung ist auch viel nachhaltiger ausgelegt. Die EU-Kriterien verlangen dies auch, in der Bewerbung wird eine zehn Jahre umfassende Entwicklungsstrategie gefordert.
Sie haben ja zu diesen Kulturhauptstädten geforscht. Wenn Sie zurückblicken, konnten die Städte daraus etwas machen? Gab es die geforderte nachhaltige Entwicklung?
Grundsätzlich denke ich, die Initiative hat sich professionalisiert und man hat auch gut voneinander gelernt. Und Erfolgsbeispiele gibt es in der Tat. Das letzte Projekt, das in Deutschland stattgefunden hat, war «RUHR.2010» – damit wurde das Ruhrgebiet als europäische Kulturhauptstadt präsentiert.
Dieses Projekt wird oft als positives Beispiel herbeigezogen, aber auch da ist nicht alles super gelaufen. Aber es gibt doch einzelne Elemente, zum Beispiel die Kooperation der lokalen kulturellen Akteure, die ziemlich gut funktioniert hat und in dieser Hinsicht dann auch beispielhaft für andere sein kann, die jetzt kommen.
Das Gespräch führte Philippe Erath.