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Kunst und Alkohol Zwischen genialischem Rausch und gefährlichem Exzess

Künstlern sagt man gern eine ungesunde Nähe zu Alkohol nach. Wie gehen Kulturschaffende in der Schweiz mit dem Trinken um?

Kommen zwei Schauspieler in eine Kneipe. Sagt der eine zum Barkeeper: «Zwei Bier bitte!» Sagt der andere: «Für mich auch.»

Der Schauspieler lässt sich in diesem Witz durch beliebige Kunstschaffende ersetzen: Ob Musikerin, Schriftsteller oder Malerin – die Pointe funktioniert immer. Denn Künstlern wird gerne eine ungesunde Nähe zu Alkohol nachgesagt.

Amy Winheouse vor einer englischen Flagge mit einem Glas in der Hand.
Legende: Auch sie suchte Halt im Alkohol: die früh verstorbene Sängerin Amy Winehouse, in einer Aufnahme aus dem Jahr 2008. Getty Images / Dave M. Benett

Zum Beispiel Amy Winehouse

Und tatsächlich: Die Liste von prominenten Künstlern und Künstlerinnen, die einen exzessiven Alkoholkonsum pflegen oder pflegten, ist lang und umfasst alle Genres.

Thriller-Autor Stephen King ist bekennendes Mitglied der Anonymen Alkoholiker. Schauspieler Ben Affleck weist sich selbst regelmässig in Rehab-Zentren ein. Sängerin Amy Winehouse starb mit 27 Jahren – und 4,2 Promille Alkohol im Blut.

Dazu kommt die Dunkelziffer der (unbekannten) Kunstschaffenden, die ihre Sucht nicht öffentlich gemacht haben.

Zu ihnen zählte bis vor einigen Jahren auch die Schriftstellerin Leslie Jamison. Nun hat die US-Autorin dies geändert: mit ihrem autobiografisch geprägten Buch «Die Klarheit». Darin schreibt sie nüchtern, aber eindringlich über ihre Alkoholsucht.

Alkoholiker als Vorbild

«Ich trank mich bis in die Schwerelosigkeit, soff mir Mut an, bis ich war, was Hemingway als ‹schnapsmutig› […] bezeichnete», lautet eine der prägnanten Stellen.

Die Aussage verdeutlicht, was Jamison als junge Autorin im Alkohol suchte: einen Kreativitätsmotor, der literarische Tiefe schafft – so wie sie ihn bei gleich mehreren grossen Schriftstellern zu erkennen glaubte.

Ernest Hemingway, James Joyce, Edgar Allan Poe: Sie alle tranken exzessiv. Ihnen nachzueifern erlaubte auch, den eigenen Alkoholkonsum zu legitimieren. Eine verführerische Konstellation.

Genau wie beim Sex

Alkohol wohnt eine Art Belohnungsversprechen inne. Er kann ein vergleichbares Wohlgefühl auslösen wie Essen oder Sex. Alle drei Handlungen bedienen dasselbe Zentrum im Gehirn. Das sorgt dafür, dass es uns dabei gut geht.

Schuld daran ist die Evolution: Nahrungsaufnahme und Geschlechtsverkehr sind für den Menschen überlebenswichtig. Er muss also beides ausüben. Und das tut er umso eher, je reizvoller es ihn dünkt.

Indem der Alkohol dasselbe Zentrum bedient, ermöglicht auch er eine «direkte Gratifikation», wie es Thilo Beck ausdrückt.

Thilo Beck

Suchtexperte

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Beck ist Chefarzt Psychiatrie des grössten Ambulatoriums für Suchtmedizin in der Schweiz: dem Zentrum Arud in Zürich. Beck beschäftigt sich intensiv mit Alkoholkrankheit.

Ein schmaler Grat

Der Psychiater Thilo Beck weiss, wie schnell aus Glück Unglück werden kann, wenn der Konsum nicht massvoll erfolgt – wie bei Leslie Jamison. «Mein Trinken hatte definitiv nichts mehr mit Romantik zu tun», sagt sie im Interview. Es sei nur noch darum gegangen, betrunken zu werden. Und zwar jeden Abend.

Wie gehen Kulturschaffende in der Schweiz mit Alkohol um? An Veranstaltungen wie Vernissagen, Premieren oder Treffen mit Sponsoren gehört ja das eine oder andere «Gläsli» – oder noch viel mehr – zum guten Ton.

Stress und Druck des Künstleralltags müssen auch irgendwo abgebaut werden. Ausserdem bietet Alkohol vielleicht die nötige Gelöstheit, die die Kreativität sprühen lässt.

Gut für die Nerven

Der Erste, den wir befragen, ist Alexander Kaimbacher. Seit 20 Jahren steht er auf der Opernbühne, zurzeit in Zürich. Und das «nüchtern», wie er betont.

Diese Aussage überrascht nicht. Opernsänger betreiben geradezu Hochleistungssport. Was dagegen aufhorchen lässt, ist sein Ritual nach einer Aufführung: Da trinkt der Österreicher jeweils eine Flasche Rotwein.

Das tut er während des Abendessens. Aber Alexander Kaimbacher gibt zu, dass das sehr viel sei. Seine Mutter schimpfe immer mit ihm.

Doch er brauche diese Menge zur Entspannung: «Der Wein ist wie ein Öl, das sich über die Nerven legt.» Am nächsten Abend könne er problemlos wieder Höchstleistung erbringen.

Trinken gegen den Druck

Sinéad O’Kelly, eine Kollegin Kaimbachers am Zürcher Opernhaus, hat vor zwei Monaten im Familien- und Freundeskreis eine Wette abgeschlossen. Sie versucht, ein Jahr lang auf Alkohol zu verzichten. Die Irin will prüfen, wie sich ihre Gesundheit und vor allem ihre Stimme verändern.

«Ich habe schon wiederholt Alkohol getrunken, um den Stress nach einer langen Arbeitswoche abzubauen», sagt die Sängerin, «oder um mit dem Druck zurechtzukommen.» Das kann Suchtexperte Thilo Beck nachvollziehen.

Die Belastung, sich regelmässig vor Publikum bewähren zu müssen, lasse sich mit niemandem teilen, so Beck. Da liege es auf der Hand, dass der eine oder die andere den Griff zum Glas als Option erachte, um Versagensängste zu bekämpfen. Denn ab einer gewissen Dosis wirke der Alkohol sedierend: Alkohol beruhigt.

Ausnahmeerscheinung Abstinenzler

Wegen ihrer Wette greift Sinéad O’Kelly bei Feierlichkeiten heute zwangsläufig zu Sprudelwasser – und nimmt damit in Kauf, sich erklären zu müssen. Es falle ihr schwer, an gewissen Anlässen auf Alkohol zu verzichten. Zumal die Getränke gratis und reichlich vorhanden seien.

Die Abstinenz macht sich in den Augen der Irin allerdings bezahlt: «Meine Stimme klingt klarer.» Sie beabsichtigt deshalb, nach Ablauf der Wette ihren Konsum zu reduzieren.

Ganz auf Alkohol verzichten will sie nicht. «Meinen irischen Whiskey vermisse ich schon sehr», sagt die Opernsängerin lachend.

Kein Alkohol auf der Bühne

Stimmt also das Klischee des berauschten Künstlers? Martin Butzke vom Theater Neumarkt in Zürich relativiert. Ein Feierabendbier liege drin, sagt der Schauspieler. Auch einen Rausch dürfe man mal haben.

Der strenge, durchgetaktete Arbeitsalltag gestatte ausuferndes Trinken gar nicht. «Entgegen dem allgemeinen Klischee verbringen Schauspieler ihre Vormittage nicht im Bett, sondern auf der Probebühne», spricht der 44-Jährige aus Erfahrung.

Butzke glaubt nicht, dass der Alkoholkonsum unter Kulturschaffenden ausgeprägter sei «als bei Notfallmedizinern, Uni-Professoren oder Lastwagenfahrern».

Zwischen Entfesselung und Verbot

Bedingungen, die zu Stress führen, begünstigen den Alkoholkonsum. Besonders gefährdet sind – so die Forschung – Schichtarbeiter, alkoholnahe Berufsgruppen wie Wirte oder solche, bei denen weitgehend die soziale Kontrolle fehlt, etwa Lastwagenfahrer.

Alkoholsucht geht quer durch alle Schichten. Sie betrifft Handwerker und Managerinnen. Ob Arbeitende in der Kulturszene stärker suchtgefährdet sind als andere Berufsgruppen, lässt sich nicht sagen. Untersuchungen dazu fehlen.

Psychiater Thilo Beck sieht allerdings bei Kulturschaffenden «einen Impetus, sich befreien zu wollen von gesellschaftlichen Normen». Sie strebten danach, Grenzen zu sprengen – auch die eigenen. Eine naheliegende Option, eine solche «Entfesselung» zu erreichen, sind bewusstseinserweiternde Substanzen.

Sie können, so Beck, gedankliche Verknüpfungen ermöglichen, die man im nüchternen Zustand «zensieren» würde. Das sei Chance, aber auch Risiko.

Scheitern als Kult

Der genialische Künstler, der im Rausch neue Stufen seines Schaffens erklimmt: Das kann für manche ein reizvolles Szenario sein. Zumal oft als besonders talentiert gilt, wer empfindsam ist und nahe am Abgrund lebt.

Das fasziniert, wird mit einem intensiven Dasein verknüpft. So erreichen selbst gescheiterte Existenzen Kultstatus.

Schauspieler Martin Butzke ist überzeugt: Das Image des trinkenden Künstlers vermag grosse Anziehungskraft auszuüben – allen voran auf junge Menschen, die «vom Partyleben eines Rockstars träumen».

Doch er betont, die Realität sei nüchterner – wortwörtlich.

Verborgene Kraft

In dieselbe Richtung denkt Heinz Helle. Der Schriftsteller glaubt, dass sich mit Hilfe von Alkohol zwar «eine Art Blick» auf «eine verborgene Kraft oder Energie» werfen lasse. Das sei «inspirierend» – erst recht, wenn man diese Erfahrung mit anderen Menschen teile: beim gemeinsamen Bier etwa.

Jedoch bringe es ihm nichts, unter Alkoholeinfluss zu schreiben, sagt der deutsche Autor. Er brauche dazu einen klaren Kopf.

Tödliche Sucht

Kürzlich hat Helle einen Roman veröffentlicht, der von zwei durchzechenden Brüdern handelt – wobei der eine starker Alkoholiker ist.

Diese einfühlsame Geschichte, die er in «Die Überwindung der Schwerkraft» erzählt, erhält eine zusätzlich berührende Note durch eine traurige Tatsache: Helles Bruder starb selbst an den Folgen einer Alkoholkrankheit.

Buch als Teil der Rettung

Dieses tragische Ende blieb der Autorin Leslie Jamison erspart. Sie realisierte, dass sie dabei war, ihr Leben zugrunde zu richten. Und wandte sich an die Anonymen Alkoholiker. So konnte sie sich aus einem Zustand befreien, den sie als «permanente Besessenheit» empfand, trinken zu müssen.

Allerdings gelang es der Amerikanerin erst im zweiten Anlauf, die Sucht hinter sich zu lassen. Ihr Buch «Die Klarheit» wurde dabei «Teil meines Heilungsprozesses». Es half Jamison, ihre eigene Geschichte zu «sortieren». Und «Trost und Erleuchtung» in Trinkerbiografien zu finden, mit denen sie während ihrer Arbeit konfrontiert wurde.

Rausch ohne Alkohol

Das künstlerische Schaffen kann – wie bei Jamison das Schreiben – einen eigenen Sog entwickeln, der sich noch verstärkt, wenn es das Publikum mitreisst.

Das sagt auch Opernsänger Alexander Kaimbacher. Allein das Bewusstsein, mit Kolleginnen und Kollegen einen «tollen» Beruf ausüben zu dürfen, der auf Anklang stosse, mache ihn «trunken». Da brauche er keine «zusätzlichen Mittel» während der Vorstellung.

Ausgerechnet der Künstler, der nach jedem Auftritt eine Flasche Rotwein trinkt, um die Anspannung zu lösen, betont: «Man kann einen Rausch erleben ganz ohne Alkohol.»

Es ist zweifellos die gesündere Form der Gratifikation. Ohne Witz.

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