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«Lob der Scham» Warum es gut ist, wenn wir uns schämen

Die Scham geniesst einen schlechten Ruf. Doch der Zürcher Psychiater Daniel Hell schreibt gegen diesen schlechten Ruf an. Das Gute an der Scham: Sie habe eine Warn- und Schutzfunktion.

«Kein anderes Gefühl wirft einen Menschen so unausweichlich und so unangenehm auf sich selbst zurück wie das Schamgefühl.» Das schreibt der Zürcher Psychiater Daniel Hell und bricht trotzdem eine Lanze für die Scham.

«Lob der Scham» heisst sein jüngstes Buch, und darin zeigt er auf, warum die Scham den Menschen zum Menschen macht. Er schreibt als Psychiater und bringt viele Fallbeispiele aus seiner langjährigen Praxis. Gleichzeitig ist sein Buch auch eine kleine Kulturgeschichte der Scham.

Zur Scham gehört Erkenntnis

Darin geht er zurück bis zu Adam und Eva und erzählt nach, wie unbeschwert sie anfänglich miteinander im Paradies lebten. In der Bibel heisst es: «Und sie waren beide nackt und schämten sich nicht.» Erst nachdem Eva von der Schlange dazu verführt wurde, vom verbotenen Baum der Erkenntnis zu essen und auch Adam davon ass, gingen den beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren.

Daniel Hell schreibt: «Ohne ein Sich-selber-Erkennen gibt es auch keine Scham.» Mit dem Auftreten von Scham verändert sich sowohl die Beziehung zu sich selbst wie auch das Verhältnis zum Mitmenschen.

Soziale und persönliche Scham

Ursachen für Scham gibt es viele: Die einen schämen sich ihrer Herkunft, ihrer Schulbildung, ihrer schrumpeligen alten Haut oder ihrer Homosexualität. Andere schämen sich, weil sie gelogen haben oder nicht zu ihren Überzeugungen gestanden sind.

In beiden Fällen zeigt Scham eine Problematik auf. Aber die Lösung ist grundverschieden: Im ersten Fall – der sozialen Scham – sollte man darum bemüht sein, sich nicht durch Überanpassung selbst zu verleugnen. Im zweiten Fall – der persönlichen Scham – ist es angezeigt, sich der inneren Wahrheit zu stellen und angerichteten Schaden wenn möglich wieder gutmachen.

Wutausbrüche im Privatleben

Scham ist anstrengend. Deshalb weichen ihr viele Menschen aus. Hell spricht von «Schamabwehr». Und die kann ganz unterschiedliche Formen annehmen: Wut ist ein häufiges Mittel, um Scham zuzudecken. Ein typisches Beispiel sind Wutausbrüche im Privatleben. Man schämt sich vielleicht, in einer Auseinandersetzung am Arbeitsplatz klein beigegeben zu haben, und ärgert sich darüber. Diese Wut darf aber am Arbeitsplatz nicht raus, und so nimmt man sie nach Hause mit und lässt sie an der Familie aus.

Beliebte Abwehrmechanismen von Scham verstecken sich auch hinter bestimmten Strategien in der Kommunikation: Man geht direkt zum Gegenangriff über, setzt ein Pokerface auf, reagiert arrogant oder zynisch. Oder deckt die Scham zu mit Alkohol, Medikamenten oder Suchtmitteln.

Scham als «Beschützerin der Gemeinschaft»

Doch wer sich seiner Scham stellt, kann sich weiterentwickeln. Denn sie ist eine Art «Türhüterin des Selbst», wie der Autor schreibt, und dient auch als «Beschützerin der Gemeinschaft».

Buchhinweis

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Daniel Hell: «Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen». Herder-Verlag, 256 Seiten.

«Lob der Scham» ist als Fachbuch bereits im Psychosozial-Verlag erschienen. Für die nun vorliegende Taschenbuchausgabe bei Herder hat der Autor das Buch für ein breiteres Publikum überarbeitet. Sein Schreibstil ist anspruchsvoll, aber durchaus verständlich, der Erkenntnisgewinn gross.

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