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Gesellschaft & Religion «Mein Kampf» als E-Book: viele Käufer, wenig Leser

Adolf Hitlers «Mein Kampf» sorgt für einen kleinen E-Book-Boom: Bei verschiedenen Anbietern im angelsächsischen Raum ist das Werk ein Dauerbrenner. Beunruhigen muss dies kaum: Die wenigsten Käufer würden das Buch lesen, glauben Historiker.

99 Cent kostet das Herunterladen von «Mein Kampf» von US-amerikanischen, 99 Pence von britischen Anbietern. Bei verschiedenen Anbietern liegt Adolf Hitlers Propagandaschrift weit oben in den Download-Charts, vor allem im angelsächsischen Raum.

Langeweile und Phrasenschwulst

Dass diese Downloads auch Leser bedeuten, bezweifelt der Berliner Historiker Wolfgang Benz: «Ich glaube, niemand liest ‹Mein Kampf›. Man erliegt allenfalls dem Faszinosum und will dieses Werk haben, weil es angeblich verboten ist. Aber ich kann mir eine fortlaufende Lektüre heutzutage durch niemanden vorstellen. Wer es zu lesen versucht, stirbt vor Langeweile, geht am Phrasenschwulst zu Grunde und ermattet wegen der nicht endenden Monologe des Autors.»

99 Cent seien ja kein Preis. Man lade den Text herunter, lese ihn an und verzage dann, sagt Benz. Eine Gefahr gehe von «Mein Kampf» nicht mehr aus.

Erstaunte Studenten

Geschichtsprofessor Peter Longerich, der «Mein Kampf» in seinen Lehrveranstaltungen in London verwendet, berichtet vom Erstaunen seiner Studentinnen und Studenten: «Der Text ist sehr schlecht geschrieben, schlecht organisiert und schwer zugänglich. Man muss sich wirklich durch den Text durchhangeln. Und er ist auch ziemlich enthüllend, was Hitlers Vorurteile, seine Phobien, seine Obsessionen anbelangt.»

Das Buch sei ein unfreiwillig psychopathologisches Dokument: «Wenn Sie wirklich wissen wollen, wie jemand funktioniert, der obsessiv antisemitisch ist, dann ist es empfehlenswert, dieses Buch zu lesen. Sie sehen, wie er sich durch diese antisemitischen Vorurteile selber den Blick auf die Wirklichkeit verstellt.»

Selbst für Rechtsextreme unlesbar

Selbst für Rechtsextremisten sei das Buch «fast unlesbar», sagt Peter Longerich. Zum schlechten Stil und zur wirren Struktur komme hinzu, dass der Text derart viele Anspielungen auf die Zeitgeschichte der 1920er-Jahre enthalte, dass es einer gründlichen Kenntnis der Geschichte jener Jahre bedürfe, um es wirklich zu verstehen.

Für Rechtsextreme sei das Buch ein Fetisch, den man herumzeige, sagt Longerich. Sie ziehe die Aura des Originals an, das andere schon in den Händen hatten. Aber lesen würden sie es kaum. Eine wirksame Propagandaschrift sei «Mein Kampf» längst nicht mehr. «Mit Nationalsozialismus à la Hitler holt man heute niemanden mehr hinter dem Ofen hervor», fasst Wolfgang Benz zusammen.

Unbefangenheit im angelsächsischen Raum

«Es gibt im englischsprachigen Raum natürlich dieses Phänomen der Faszination des Nationalsozialismus», sagt Peter Longerich. «Das ist vielleicht grösser als im deutschsprachigen Raum. Einfach, weil die Nazis eine so ‹schräge und abgefahrene› Geschichte sind, wenn ich das mal so sagen darf, dass man sich dem auf eine andere Weise noch annähern kann. Während wir in Deutschland natürlich in erster Linie die grossen Verbrechen, das Böse in diesem Zeitabschnitt sehen. Vielleicht gibt es da eine gewisse Unbefangenheit gerade unter jüngeren Nutzern im angelsächsischen Bereich.»

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