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Gesellschaft & Religion Mit dem Mord an Rabin starb auch die Hoffnung auf Frieden

Vor 20 Jahren wurde der israelische Ministerpräsident Jizchak Rabin von einem jüdischen Extremisten ermordet. Seither fehle in Israel die Vision eines friedlichen Miteinanders von Palästinensern und Israelis – sagen israelische Autoren. Und: Das Land sei für Juden gefährlicher geworden.

Der 4. November 1995 war ein warmer Tag. 400'000 Menschen nahmen an einer Friedenskundgebung im Zentrum von Tel Aviv teil. Kinder tanzten mit kleinen Fahnen in den Wasserbecken auf dem Platz vor dem Rathaus. Der damalige Ministerpräsident Jizchak Rabin betrat die Bühne und hielt eine Rede – es war seine letzte. Doch das ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Eine Frau mit einem blonden Lockenkopf und schwarzer Brille.
Legende: Autorin Lizzie Doron. Keystone

«Der Graben wird immer tiefer»

Die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron erinnert sich an dieses Ereignis, als wäre es gestern gewesen: «Wir hatten den Platz kurz vor Ende der Kundgebung verlassen, als wir plötzlich drei, vier religiöse Juden tanzen sahen. Sie sangen: ‹Rabin ist tot! Rabin ist tot!› Mein Mann und ich sahen uns an und waren uns sicher, dass sie unter Drogen standen.»

In ihrem jüngsten Roman «Who the fuck is Kafka» befasst sich Lizzie Doron mit den Folgen jenes Mordes vor 20 Jahren. «Er hat die Spaltung der israelischen Gesellschaft vertieft. Seitdem wird der Graben zwischen Juden und Palästinensern von beiden Seiten immer tiefer ausgehoben.»

Ein Mann mit gestreiftem T-Shirt und Sonnenbrille im Haar, den Blick gegen oben gerichtet.
Legende: Autor Nir Baram. Mirko Schwanitz

«Das Klima ist völlig vergiftet»

Der israelische Autor und Journalist Nir Baram – bekannt für seine Romane «Gute Leute» und «Der Wiederträumer» – ging als Jugendlicher bei den Rabins ein und aus. Sein Vater war Mitglied in Rabins Kabinett.

«Die neue Welle der Gewalt in Jerusalem hat ihre Ursachen nicht allein in der letzten Rede von Mahmud Abbas vor der UNO», sagt er. «Mit Jizchak Rabin wurde auch jene politische Kultur getötet, die auf eine Zwei-Staaten-Lösung hoffen liess. Für meine Generation ist der Tod von Rabin eng verbunden mit dem Machtantritt von Benjamin Netanjahu 1996.» Innerhalb eines Jahres sei damals der Osloer Friedensprozess zerstört worden – «alles, woran wir geglaubt hatten». Seitdem fehle in Israel jeglicher politische Mut, «das politische Klima ist völlig vergiftet».

Ein Mann mittleren alters mit Brille und kurzgeschorenem Haar.
Legende: Autor Meir Shalev. Mirko Schwanitz

«Man muss den Palästinensern einen Staat geben»

Der israelische Schriftsteller Meir Shalev, dessen Bücher im Diogenes Verlag erscheinen, betrachtet das politische Geschehen aus der Ferne des Kibbuz, in dem er lebt. «Die Lösung heisst: Man muss den Palästinensern im Westjordanland einen Staat geben. Das bedeutet aber auch, dass die Palästinenser auf ihre Forderung verzichten, alle palästinensischen Flüchtlinge hierherzubringen. Geschieht das nicht, werden wir eine jüdische Minderheit sein, die über ein anderes Volk herrscht – in einem solchen Land möchte ich nicht leben.»

«Für Juden ist Israel der gefährlichste Ort»

In einem Punkt sind sich die israelischen Autoren einig: Jizchak Rabin hatte eine Vision von der Zukunft. Diese Vision eines friedlichen Mit- oder Nebeneinanders von Palästinensern und Israelis scheint mit seiner Ermordung auch in der politischen Klasse Israels ausgelöscht worden zu sein.

Video
«Rabin, the Last Day» in Venedig
Aus Tagesschau vom 09.09.2015.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 27 Sekunden.

Europa und die USA hätten nie verstanden, wie sehr die Befürworter des Osloer Friedensprozesses nach der Ermordung Rabins allein dagestanden hätten, sagt Lizzie Doron.

«Statt sie zu stärken, hat sich der Westen automatisch auf die Seite der Palästinenser gestellt und so die Seite der Friedensbefürworter in Israel zusätzlich geschwächt.» Das habe unmerklich auch zu einer Veränderung der jüdischen Identität in Israel geführt.

«War es früher Verrat, dem Land den Rücken zu kehren, ist die Identität vieler Juden heute nicht mehr zwingend mit dem Staat Israel verbunden. In den 1970er- und 1980er-Jahren wäre ich nie auf die Idee gekommen, mein Heimatland zu verlassen. Heute glaube ich nicht einmal mehr, dass Israel mein Heimatland ist», sagt Lizzie Doron.

Ihre Begründung: «Weil Israels Politiker es nicht zum sichersten, sondern zum gefährlichsten Ort gemacht haben, an dem ein Jude leben kann. Ich fühle mich in vielen Staaten dieser Welt sicherer als in Israel.»

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