SRF: Die israelische Autorin Lizzie Doron beschreibt in ihrem Buch «Sweet Occupation», wie sie sich dagegen wehrt, Palästinensern zuzuhören. Warum fällt ein solches Gespräch so schwer?
Gabriel Strenger: Man findet sehr schnell heraus, dass man in verschiedenen Welten lebt. Von der Religion her – aber auch die Narrative, also die Art und Weise, wie wir die Realität wahrnehmen, sind ganz unterschiedlich. Diese Differenzen lassen sich nicht in einem kurzen Gespräch bereinigen.
Aber grundsätzlich sind wir Menschen dazu fähig, verschiedenen Erlebniswelten wahrzunehmen und zu respektieren. Die narrativen Unterschiede allein erklären noch nicht, warum es so schwierig ist, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Man muss verstehen, dass wir hier im Nahen Osten in einer so brenzligen Situation sind, wo beide Seiten sich existentiell, also wirklich an Leib und Leben bedroht fühlen. Das macht es sehr schwierig, diese Unterschiede auszuhalten und zur Sprache zu bringen.
Israelis feiern die Staatsgründung Israels als Triumph, für Palästinenser ist es eine Katastrophe. Wenn man sich auf solche unterschiedlichen Sichtweisen einlässt, kann das zu einem Identitätskonflikt führen.
Die Geschichten, die wir uns von unserer Vergangenheit und unserer Gegenwart erzählen, sind Teil unserer Identität. Wenn jemand die Realität ganz anders sieht, fühlt man sich in seiner Identität bedroht.
Wir haben als Menschen das Bedürfnis nach einem stabilen Selbstbild ohne grosse Widersprüche. Bei Begegnungen mit anderen kommt dieses Selbstbild ins Wanken. Das macht Angst und bringt Abwehrmechanismen in Gang. Es braucht sehr viel innere Kraft, das auszuhalten und sich dem zu stellen.
Ist die Frage der Identität in Israel und Palästina denn besonders wichtig?
Das Problem ist hier, dass sich zwei Nationen um ein so kleines Gebiet streiten. Israel ist nur etwa halb so gross wie die Schweiz.
Beide Nationen haben das Gefühl, dass sie nirgendwo anders hinkönnen und nicht mehr leben können, wenn sie verlieren. Aus jüdischer Perspektive ist das Trauma-beladen. Während 2000 Jahren hatten wir kein Territorium. Die Bedrohung, es zu verlieren, wird so fast unerträglich.
Wie gelingt es Ihnen als Psychologe, die Sichtweise der anderen, in Ihrem Fall diejenige der Palästinenser zu akzeptieren?
Ich bin ein überzeugter Pluralist. Das bedeutet: Ich bin mir bewusst, dass Realitätswahrnehmung immer nur ein Teil der Wahrheit sind. Es geht nicht darum, zu sagen, dass all meine Ideen nicht wahr sind. Sondern überhaupt auszuhalten, dass alle Geschichten, die wir uns erzählen, immer nur ein Teil der Wahrheit sind.
Wir brauchen das, damit wir nicht im Kerker unseres eigenen Egos stecken bleiben. Als Pluralist begrüsse ich deshalb den Dialog auch mit den Palästinensern. Er hilft mir, meine eigene Geschichte und die ganze komplizierte Realität im Nahen Ostens besser zu verstehen.
Das Gespräch führte Antonia Moser.