Sie sind seit Jahren in der Schweiz, unauffällig und gut integriert. Doch vor drei Wochen rückten sie schlagartig in die Öffentlichkeit: die kalabrischen Mafiosi der 'Ndrangheta. Im aargauischen Muri flog einer ihrer Ableger auf.
Die Strafverfolgungsbehörden gehen von rund 400 Mafiosi aus, die in der Schweiz tätig sind. Sie konnten hier Fuss fassen, weil nicht vehement genug gegen sie vorgegangen werde, sagt Mafia-Expertin Zora Hauser.
SRF: Bei der gross angelegten Polizeiaktion wurden 75 mutmassliche Mafiosi verhaftet, sechs von ihnen in der Schweiz. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie davon erfuhren?
Zora Hauser: Ich war nicht überrascht. Es geht um Geldwäscherei, Drogen- und Waffenhandel: die üblichen Geschäfte der Mafia, nicht nur in Italien. In der Schweiz hat sich die ’Ndrangheta schon vor 30, 40 Jahren eingenistet.
Selbstverständlich aber wird nicht in jeder Dorfpizzeria Geld gewaschen. Es geht um eine kriminelle Minderheit von Mafiosi, die jedoch einen grossen Einfluss hat.
Warum ist die Schweiz für die 'Ndrangheta attraktiv?
Ein Grund dafür ist die geringe Aufmerksamkeit der Gesellschaft, der Behörden und der Politik. Zudem ist hier Geldwäscherei nach wie vor möglich.
Und schliesslich ist es in der Schweiz bisher sehr einfach gewesen, an Waffen heranzukommen. Das könnte sich jetzt mit dem neuen Gesetz allerdings ändern.
Die Männer, die in der letzten Razzia verhaftet wurden, stammen alle aus einer kalabrischen Kleinstadt und sind mittleren Alters. Was weiss die Soziologie über diese Generation der 'Ndrangheta?
Wenig. Das erstaunt nicht, denn es gibt keine offiziellen Mafiosi-Listen, die der Forschung zugänglich wären.
Aufgrund meiner Recherchen über die ’Ndrangheta in Deutschland kann ich sagen, dass es sich wie im aktuellen Fall in Muri meist um 40- bis 50-Jährige handelt, die in der ersten Generation als junge Männer hierhergekommen sind, also schon lange hier leben.
Die in der Schweiz verhafteten Männer gelten als gut integriert. Wie kommt diese Integration zustande?
Die Integration in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in der Schweiz erfolgt durch die Zusammenarbeit mit hiesigen Treuhändern, Anwälten und Investoren, die den Mafiosi dabei helfen, ihre kriminellen Geschäfte unsichtbar zu machen. Manchmal ist dies den professionellen Dienstleistern nicht einmal bewusst.
Wie kann ein Buchhalter, eine Notarin oder ein Immobilienfachmann merken, dass ein Geschäft mafiös ist?
Es ist nicht immer offensichtlich, aber es gibt Fälle, in denen sie es merken müssten.
Nehmen wir zum Beispiel ein italienisches Restaurant: Da arbeiten sehr junge Kellner, die aus Kalabrien geholt werden. Sie verdienen hier wenig Geld. Aber bereits nach wenigen Monaten haben sie Millionen von Euro auf dem Konto, die sie in Immobilien investieren, ohne belegen zu können, woher das Geld kommt.
Da gäbe es für eine Bankangestellte oder einen Immobilienhändler schon einen Grund, genauer hinzuschauen. In diesem Moment käme es darauf an, die Investition nicht einfach durchzuwinken.
Schon Kinder übernehmen Aufgaben im Drogenhandel und schmuggeln Waffen.
Es heisst, in der jungen Generation der 'Ndrangheta gebe es Ärzte, Juristinnen und Finanzspezialisten, die in den Metropolen der Welt tätig seien. Lenken sie die Geschicke?
Es gibt junge Unternehmer unter ihnen, ja. In anderen Berufsgruppen handelt es sich aber um Einzelfälle. Ich sehe nicht, dass sich in Kalabrien eine besonders clevere, hochgebildete Generation junger Mafiosi herausbildet, und kenne auch keine Studie dazu.
Der Eindruck mag entstehen, weil die jungen Leute heute im Vergleich zur älteren Generation länger zur Schule gehen, weiter in der Welt herumkommen und über die sozialen Medien vernetzt sind.
Aber das ist eine allgemeine Entwicklung. Die wichtigen strategischen Entscheide der 'Ndrangheta werden nach wie vor im alteingesessenen Clan in Kalabrien getroffen.
Die biologische Familie bildet die organisatorische Einheit der mafiösen Clans. Was bedeutet es, wenn Kinder in diesem kriminellen Milieu aufwachsen?
Die Kinder und Jugendliche werden zur blinden Loyalität gegenüber der Familie erzogen. Der Familie zu dienen und sie in allem zu unterstützen, ist das wichtigste Gebot – auch wenn man dabei illegal handelt. Mit dieser Loyalität sichern die Clans ihre kriminellen Aktivitäten ab.
Schon Kinder übernehmen denn auch innerhalb dieser Familien Aufgaben im Drogenhandel und beim Verschieben von Waffen. Dies geht so weit, dass Jugendliche im Auftrag der Familie Morde ausführen.
Werden in Kalabrien immer noch Hochzeiten dafür benutzt, um die familiäre Clanstruktur zu festigen?
Das ist eine sehr problematische Praxis. Es ist schwer, sich den familiären Vorgaben zu entziehen. Aber es gibt in der Stadt Reggio Calabria eine Initiative, die Familienangehörige unterstützt: entweder, wenn sich eine junge Frau gegen eine vorgegebene Heirat entscheidet oder eine Mutter verhindern will, dass ihr Kind in kriminelle Tätigkeiten hineingezogen wird.
Die Betroffenen können mithilfe eines staatlichen Programms versuchen, in einem anderen Landesteil und mit einer neuen Identität ausgestattet ein neues Leben anzufangen.
Wie erfolgreich ist das?
Das Programm läuft bereits seit ein paar Jahren. Wir sehen jetzt erste Erfolge, indem sich junge Leute aus ihrer kriminellen Herkunftsfamilie lösen konnten.
Sie sind nun dran, sich ausserhalb des Clans ein eigenes Leben aufzubauen. Nach anfänglicher Kritik wird diese Initiative in Kalabrien von der Gesellschaft positiv bewertet. Allein das ist schon ein Erfolg.
Das Gespräch führte Sabine Bitter.