Hartmut Rosa gehört gegenwärtig zu den bedeutendsten Soziologen der deutschsprachigen Welt. Seine Analysen der Spätmoderne und der stetigen Beschleunigung in der gegenwärtigen Zeit treffen auf grosses Interesse.
Das macht ihn selbst zu einem Gejagten. Ironie des Schicksals? «Natürlich bin ich häufig gehetzt und in Zeitnot», erklärt er und entschuldigt damit kokett sein zeitweise übereiltes Sprechtempo.
Worum geht es Rosa konkret? Als Soziologe legt er dar, dass unsere Gesellschaft von einem «Steigerungszwang» durchzogen ist. Dieser zeige sich in der Wirtschaft, aber auch in den stetig wachsenden To-do-Listen und im Optimierungswahn – etwa, wenn wir morgens vor dem Spiegel neue Falten als ein zu lösendes Problem ansehen. Die Welt werde damit zum Objekt, an dem man sich abarbeiten müsse.
Menschen möchten berührt und bewegt werden
Das alles sei nicht per se schlecht, aber es bedürfe eines neuen Gleichgewichts. Denn eigentlich habe der Mensch, so Rosa, eine tiefgehende Sehnsucht nach einem anderen Welterleben, nämlich nach Resonanzbeziehungen. Man möchte berührt und bewegt werden. Der ständige Zeit- und Aufgabendruck verhindere jedoch diesen lebendigen Austausch mit der Welt.
Rosa nennt das auch «sich anrufen lassen» und meint dies nicht telefonisch: Um in Rosas Sinne «angerufen» zu werden, müsse man sich ganz auf etwas einlassen können. Erst in dieser Haltung des «Hörens» und «Antwortens» könne eine persönliche Verwandlung stattfinden.
Das Ergebnis dieser Veränderung lässt sich aber nicht kontrollieren und ist deshalb unverfügbar. Genau davon handelt Rosas neuestes Buch «Unverfügbarkeit».
Religion ist eine Form der Beziehung
Beachtung finden Rosas Gesellschaftsdiagnosen auch unter Theologen. Etwa wenn es um die Frage geht, ob zu einem solch gelingenden Leben auch religiöse Erfahrungen dazugehören.
Für den Soziologen ist Religion eine Form der Beziehung – und zwar eine besonders Resonanzfördernde. So zieht es auch ihn selbst immer wieder in die Kirche, nicht zuletzt, weil er leidenschaftlicher Orgelspieler ist.
«Religion hat die Funktion und den Sinn, dass sie uns die Seite eines antwortenden Universums erfahren lässt», so Rosa. Ihre Praktiken, Gebete, das Abendmahl, aber auch Lieder zielen darauf ab, «das Getragensein erfahrbar, erspürbar und denkbar zu machen».
Bibel als gutes Beispiel für Resonanz
So versuche die Religion, genau diesem Bedürfnis des Menschen einen Ausdruck zu verleihen und praktische Formen zu geben. «Das ist, glaube ich, eine grosse Kraft der Religion und deshalb ist sie wohl weithin so wirksam», gibt er zu bedenken.
Die Bibel selbst sei ein gutes Beispiel für Resonanz. Sie sei einerseits ein gewaltiges Dokument des Schreiens, Flehens und Hoffens auf Antwort. Andererseits gebe sie ein Gegenversprechen: «Da ist einer, der hört Dich, der sieht Dich, der meint Dich. Man steht damit in einem Antwortverhältnis.» So etwa im Gebet. Rosa nennt das auch eine vertikale Resonanzachse.
Die Leistung von Religion besteht für Rosa also nicht primär darin, einen kognitiven Sinn, sondern vor allem auch eine Erfahrungssphäre zu eröffnen. Denn: Ob religiös oder nicht, als Mensch brauche man einen Sinn dafür, wie man mit dem Leben, der Welt oder dem eigenen Existenzgrund verbunden ist.