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Gesellschaft & Religion Stalin-Verklärung 60 Jahre nach seinem Tod

Am 5. März vor 60 Jahren ist Josef Stalin verstorben. Seine Diktatur forderte Millionen von Todesopfern – doch bei vielen Russen geniesst Stalin auch heute noch hohes Ansehen. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit ist nicht in Sicht.

«Die Idee, dass zu Stalins Zeit wahre Ordnung und Gerechtigkeit herrschte, erlebt heute in Russland eine Renaissance», beobachtet der russische Schriftsteller Andrej Kurkow. Dies ist aus westlicher Sicht erstaunlich: Josef Stalin herrschte zwischen 1927 und 1953 als kommunistischer Diktator der Sowjetunion und baute in dieser Zeit ein Terror- und Gewaltregime auf, auch gegen sein eigenes Volk.

Verklärung eines einstigen Diktators

Ein weisser Bus, der auf der Seitentüre ein schwarz-weiss-Porträt von Stalin zeigt.
Legende: Busse in St. Petersburg stilisieren Stalin zum Kriegshelden. Keystone

Dass Stalin heute dennoch als starke Persönlichkeit verklärt wird, erklärt sich Andrej Kurkow so: Nach Stalins Diktatur hätten sich viele Russen Besserung erhofft – und wurden enttäuscht. «Die Leute bekamen mehr und mehr Schwierigkeiten im Leben», meint Kurkow. «Dies führte dazu, dass heute viele die Vergangenheit als ‹menschlicher› betrachten.»

Diese Rückbesinnung auf Stalin bekommt auch Auftrieb durch neue Bücher. In russischen Buchhandlungen liegen dieser Tage diverse Biografien über Stalin und seine Anhänger auf, verfasst von pro-kommunistischen Autoren. Diese würden Stalin als guten Krisenmanager darstellen, sagt Kurkow.

Russland ist nicht an Aufarbeitung interessiert

Ausserdem fehlt in Russland eine richtige Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit. Anders als etwa in Deutschland, wo von den Nürnberger Prozessen bis hin zu Aufklärungsfilmen viel für die Vergangenheitsbewältigung getan wurde, unterstützt der russische Staat solche Bestrebungen nicht.

Auch Bücher von früheren Dissidenten werden nicht mehr gelesen. «Für russische Ideologen ist es wichtiger, Stalin als Figur des Siegers in der Geschichte zu zeigen», sagt Kurkow. Nicht zuletzt habe die Bevölkerung auch das Interesse an «Gulag»-Geschichten verloren, also am rigorosen Repressionssystem der einstigen Sowjetunion.

Sehnsucht nach einem einfacheren Leben

Noch unter Michail Gorbatschow war dies anders. Gorbatschow, der mit seiner Politik ab Mitte der 1980er Jahre das Ende des Kalten Krieges einleitete, erlaubte die Veröffentlichung von einst verbotenen Büchern. «Die Auflagen solcher Bücher erreichen Millionen», sagt Kurkow. Das Interesse liess aber bald nach.

Audio
Andrej Kurkow im Gespräch mit Michael Luisier
aus Kultur kompakt vom 05.03.2013.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 44 Sekunden.

Mit dem Ende der Sowjetunion und dem neu angebrochenen Zeitalter wurde das Leben der russischen Bevölkerung auf den Kopf gestellt – und komplizierter. «Mitte der 1990er Jahre war das Leben für viele so schwer, dass kein Platz mehr war für Politik und Geschichte», meint Kurkow. Dies ist heute wenig anders und mit ein Grund, dass die Verklärung Stalins wieder Aufschwung erhält.

Allerdings geschieht dies nicht ohne kritische Stimmen: Menschenrechtler, Historiker und die liberale Opposition forderten, den Stalinismus offiziell als Verbrechen einzustufen. Hierzu braucht es allerdings ein Umdenken, nicht zuletzt in der russischen Regierung.

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