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«Tagi» ohne Kulturteil «Geklickt wird vor allem, was Emotionen auslöst»

Am Freitag machte diese Schlagzeile die Runde: «Bei Tamedia verschwinden die Ressorts Wissen und Kultur». Tatsächlich verschwinden sie nicht ganz. Sie werden mit den Bereichen «Gesellschaft» und «Service» zum Ressort «Leben» zusammengefasst.

Muss man um die klassische Kulturberichterstattung bangen? Wenn sich Verlage über Werbung finanzieren, wird sie sich massiv verändern, sagt der Basler Medienwissenschaftler Matthias Zehnder.

SRF: Die klassische Kulturkritik generiert im Netz zu wenig Klicks. Ist es so schlimm, wenn Tamedia sich dem Interesse der Leserschaft anpasst und das Feuilleton einfach auflöst?

Matthias Zehnder: Die Leserinnen und Leser verhalten sich online anders als im Print. In einer gedruckten Zeitung liest man über die Ränder hinaus.

Kommt dazu, dass sich die Aufmerksamkeit online stärker an den klassischen Boulevardkriterien orientiert – also an Sensation, Emotion, Personalisierung. Deshalb neigen Online-Angebote dazu, boulevardisierte Inhalte stark auszuspielen.

Inhalte, die weniger aufgeregt daherkommen, werden weniger stark genutzt. Das ist natürlich zum Nachteil der klassischen Kulturberichterstattung.

Die Entwicklung in den Redaktionen geht stark Richtung Abschied vom Agenda-Journalismus.

Die klassische Kulturberichterstattung hatte es schon im gedruckten Feuilleton nicht leicht. Wie wird sie sich entwickeln, wenn man noch mehr auf Klickzahlen achtet?

Die klassischen Kulturteile der Zeitungen haben laut Leserforschung eine Lesequote von etwa 7 bis 15 Prozent. Das ist sogar noch etwas besser, als der Wirtschaftsteil einer normalen Zeitung. Ganz so schlimm ist es also nicht.

Die Entwicklung in den Redaktionen geht aber stark Richtung Abschied vom sogenannten Agenda-Journalismus. Man berichtet weniger über Anlässe oder Ereignisse, die in einer Agenda auftauchen. Darunter leidet die klassische Kulturberichterstattung.

Welche andere Wahl haben Medienunternehmen, um sich dem ökonomischen Druck zu beugen?

Die Frage ist, was die Klickzahlen genau aussagen. Im Normalfall findet ein Kurzschluss statt: Was gut geklickt wird, das interessiert auch.

Geklickt wird aber vor allem, was Emotionen auslöst. Das müssen nicht nur positive Emotionen sein. Man klickt ja nicht nur aus Interesse, sondern auch vor Aufregung, Ärger oder Wut.

Wenn Medienunternehmen sich nur nach den Klickzahlen richten, dann verhalten sie sich wie der Mann, der den verlorenen Schlüssel unter der Strassenlaterne sucht, obwohl er ihn da nicht verloren hat. Er sucht ihn da, weil es da Licht hat.

Wir sehen also immer nur einen kleinen Ausschnitt dessen, was da im Angebot ist. Das ist bei einer gedruckten Zeitung oder beim E-Paper ganz anders. Da sehen wir eine Übersicht. Wir haben mehr Übersicht und können auch entsprechend besser auswählen.

Entscheidend sind die ökonomischen Modelle, mit denen die meisten grossen Verlage arbeiten.

Ist man ein Kulturpessimist, wenn man sagt: Mit dem Netz geht alles den Bach runter?

Entscheidend ist weniger die Digitalisierung. Entscheidend sind die ökonomischen Modelle, mit denen die meisten grossen Verlage arbeiten. Die ökonomischen Modelle sind auf Werbung ausgerichtet.

Werbung wird dann gut verkauft, wenn sich die Inhalte in kurzer Zeit gut abgerufen werden. Es gibt aber noch andere ökonomische Modelle für die Finanzierung von Journalismus.

Welche?

Zum Beispiel die Finanzierung durch die Leser, durch Stiftungen oder Gebühren. Da ist einfach die ganze Palette noch nicht ausgeschöpft.

Sicher ist: Gute Kulturberichterstattung wird sich schlechter über die Werbung finanzieren lassen, die gut performen muss. Da müssen andere ökonomische Modelle hinzugezogen werden – Abogebühren, Stiftungen, oder Leserinnen und Leser, die zahlen.

Das Gespräch führte Katrin Becker.

SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 30.3.2020, 6.50 Uhr ; 

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