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Gesellschaft & Religion «Tsunami Architecture» – Leben nach der Apokalypse

Mit dem Film und dem gleichnamigen Buch «Tsunami Architecture» gelang dem Schweizer Künstlerpaar Draeger und Holzfeind eine eindrückliche Dokumentation über die Auswirkungen des Tsunami aus dem Jahr 2004. Das Augenmerk gilt den Fragen, wie die neugebaute Architektur heute im Alltag funktioniert.

In scheinbar endlosen Wiederholungen rollte sie durch die Medien: die schockierende Riesenwelle, die am 26. Dezember 2004 die vermeintlichen Paradiese in Südostasien verwüstete und über 230 000 Menschen in den Tod riss. Es folgte eine der grössten Hilfsaktionen der Geschichte: Insgesamt 13 Milliarden US-Dollar wurden gespendet. Der grösste Teil dieses Geldes floss in den Wiederaufbau der über 140 000 zerstörten Privathäuser und öffentlichen Gebäude.

Kunstprojekt trifft Reportage

Aus den Medien ist der Tsunami verschwunden, seine Folgen aber bleiben. Der Schweizer Künstler Christoph Draeger und seine Partnerin Heidrun Holzfeind wollten mehr wissen. Im Winter 2010/11 bereisten sie die fünf am stärksten vom Tsunami getroffenen Gebiete in Thailand, Indonesien, Sri Lanka, auf den Malediven und in Indien.

Buchhinweis

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Christoph Draeger und Heidrun Holzfeind: Tsunami Architecture. Folio Verlag, 2012.

Dabei interessierte sie, wie die Katastrophe, die Spenden und der Wiederaufbau den Alltag der Überlebenden verändert haben. Sie fragten nach, bei Opfern, Aufbauhelfern und Politikern. Daraus entstanden der Dokumentarfilm «Tsunami Architecture» und das gleichnamige Buch.

Fehlender Einbezug der Bewohner

Aus der Dokumentation der beiden Künstler wird schnell klar, dass die zukünftigen Bewohner mancher Aufbauprojekte wenig oder gar nicht in die Einrichtung ihrer Häuser miteinbezogen wurden – mit peinlichen Folgen für die Hausbesitzer. Ein Mann in Sri Lanka erklärt beschämt: «Wir haben nun eine Toilette mitten im Haus. Das gehört sich doch nicht. So hört man jedes Geräusch.» Ausserdem verfügen viele der nach dem Tsunami gebauten Häuser über eine geschlossene Küche ohne Kamin – obwohl die Bewohner auf dem offenen Feuer kochen.

Dabei haben sich die Organisationen mit der Bauherrschaft nicht willkürlich für Küchen ohne offenen Herd entschieden. In Südostasien brennen Jahr für Jahr zahlreiche Häuser nieder, wenn das Feuer ausser Kontrolle gerät. Man wollte mit dem Bau von geschlossenen Küchen erreichen, dass die Menschen sich an andere Arten des Kochens gewöhnen. Doch damit hatten sie keinen Erfolg: Die Mehrheit baute sich nach dem Einzug kurzerhand aus Tsunami-Trümmern selbst eine Küche aussen ans Haus.

Sicherheit versus Tradition

Kleine Häuser in Igluform stehen im indischen Staat Tamil Nadu.
Legende: Die «Iglu-Häuser» in Sri Lanka sehen aus wie umgekippte Teetassen, erfüllen aber ihren Zweck. Christoph Draeger

Aus der Tsunami-Katastrophe wollte man Lehren ziehen. Ehemalige Küstenbewohner wurden deshalb ins Inland umgesiedelt, wo sie und ihre Häuser vor den Fluten sicher sind. Allerdings wohnen jetzt viele Fischer kilometerweit vom Meer entfernt. Das macht es für sie schwierig, weiterhin ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei zu verdienen.

Doch manchmal erwiesen sich unkonventionelle Lösungen als echte Treffer. Beispielsweise das knallbunte Dorf aus Beton-Iglus in Pottuvil, Sri Lanka: Ihre Bauweise ähnelt traditionellen sri-lankischen Häusern nicht im Entferntesten. Doch die Häuser haben das, was die Bewohner brauchen: Ein Herd mit offenem Feuer, die Toilette hinter dem Haus, grosse Wassertanks und eine tsunamisichere Konstruktion.

Wiederaufbau verändert soziale Strukturen

Auch eine Lehrerin im indischen Tamil Nadu schwärmt vom neugebauten Dorf: «Seit dem Wiederaufbau haben wir hier richtige Schulen, Strom und Trinkwasser. Und wo vorher einfache Hütten auf Sand standen, wohnen die Menschen nun in stabilen Häusern aus Beton.»

Ausserdem sind durch den Wiederaufbau die sozialen Strukturen verändert worden. In Tamil Nadu gehören die wiedergebauten Häuser von Ehepaaren nun nicht mehr wie davor nur dem Mann, sondern beiden Ehepartnern. «Im Falle einer Trennung können die Frauen nun Anspruch darauf erheben, was vorher nicht möglich war», berichten Draeger und Holzfeind. Und da viele Männer das Geld von Hilfsorganisationen für Alkohol und Glücksspiele ausgaben, gingen viele Organisationen dazu über, das Geld direkt an die Frauen auszuzahlen. «Diese Lösung gibt den Frauen mehr Einfluss und Mitsprache in der Partnerschaft», so Draeger.

Die Katastrophe als Chance

Katastrophen sind Christoph Draegers künstlerisches Hauptthema. In «Tsunami Architecture» geht es ihm dabei nicht um Schreckensbilder, sondern um die Langzeiteffekte eines solch traumatischen Ereignisses. «Nach der Reise durch die Tsunamigebiete bin ich überzeugt, dass auch die schlimmste Katastrophe Menschen dazu bringt, ihr Potenzial zur Weiterentwicklung auf kreative Art und Weise zu nutzen. So, dass das Leben nach der Katastrophe wenigstens auf einer strukturellen Ebene besser ist, als das davor», meint Draeger.

Video
Wiederaufbau: Was die neue Architektur in den Tsunamigebieten taugt
Aus Kulturplatz vom 19.12.2012.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 54 Sekunden.

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