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Gesellschaft & Religion Virtuelle Proteste bringen in der Politik (noch) nichts

Bundesrat Maurer vergleicht Hausfrauen mit gebrauchten Gegenständen, der Berner Stadtpräsident reisst Italiener-Witze: Im Netz entstehen entsprechende Empörungs- und Solidarisierungswellen. Aber deren Folgen sind häufig bescheiden, zeigen Fallstudien. Aber das könnte sich bald ändern.

Orkanartige Empörungs-Stürme können toben, wenn sich User ihre Meinungen und Emotionen in Kommentarfeldern und Social Media von der Seele schreiben. Wenn sich Gleichgesinnte im Internet zusammenschliessen, kann grosser öffentlicher Druck entstehen. Nur: Politische Entscheidungsträger lassen sich in den seltensten Fällen davon beeinflussen.

Massenempörung verpufft

Zur Person

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Erik Jentges ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich (IPMZ). Er forscht zu Charisma und politischer Kommunikation. Momentan beschäftigt er sich insbesondere mit der Kommunikation, die in Empörungswellen an Verwaltungseinheiten getragen wird.

Oft würden solche Massenempörungen folgenlos verpuffen, weil sie sehr kurzlebige Phänomene seien, sagt Erik Jentges vom Zürcher Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ). Dies zeigen wissenschaftliche Fallstudien zu digitaler Massenentrüstung, so zum Beispiel eine Untersuchung des Abstimmungskampfes um die Minarett-Initiative oder zum Fall Carlos.

Im stillen Kämmerlein wutentbrannt in die Tasten zu hauen, ist bislang weit weniger effektiv als der Protest auf der Strasse, sagt Erik Jentges. Im Kampf um die Frauenrechte oder den Umweltschutz zum Beispiel seien aufgebrachte Demonstranten mit Transparenten, Sitzstreiks oder fliegenden Farbbeuteln von der Politik besser wahrgenommen worden.

Schockierende Clips, die Wirkung zeigten

Aber es gibt auch Gegenbeispiele: Die digitale Welt bietet Chancen für Interessensgruppen, die öffentliche Resonanz brauchen, aber über wenig Ressourcen verfügen. So hat zum Beispiel Greenpeace im Jahr 2010 eine erfolgreiche Anti-Nestlé-Kampagne mit schockierenden Youtube-Clips lanciert. Die geplante Empörungswelle gegen KitKat von Nestlé und die umstrittene Art der Palmöl-Gewinnung im indonesischen Regenwald hat sich explosionsartig im Internet verbreitet. Nach mehr als 1,6 Millionen Klicks, sowie Tweets und Kommentaren innert wenigen Wochen hat sich Nestlé verpflichtet, die Verträge mit dem Palmöl-Produzenten zu kündigen.

Die Privatwirtschaft reagiert schneller

Im Gegensatz zur trägen Reaktion von politischen Institutionen, reagiert die Privatwirtschaft souveräner auf digitale Entrüstung. Firmen betreiben ein Monitoring in den sozialen Medien, um schnell auf Kundenunzufriedenheit zu reagieren, beurteilt Erik Jentges. Besonders in der Lebensmittelindustrie und der Autoherstellung hat der Wissenschaftler ein schnelles Reagieren auf Kundenempörung festgestellt.

Wasser wird 1 Franken billiger, Gebäck gespendet

Ein aktuelles Beispiel von Twitter: Kürzlich postete ein Gast des vegetarischen Restaurants Hiltl seine Rechnung, weil er ein Brownie-Kundengeschenk erhalten hatte. Daraufhin twitterte jemand: «Nun, bei diesen Preisen für ein Fläschchen Wasser ...» Es ging also plötzlich nicht mehr um das Gratis-Brownie, sondern um den Preis des Wassers. Und prompt schaltete sich Hiltl ein und verkündete, dass das Fläschchen zukünftig einen Franken weniger kosten würde.

Eine ähnliche Erfahrung machte eine Migros-Kundin im Herbst 2012, als sie sich auf Facebook beschwerte, dass das Weihnachtsgebäck im Oktober viel zu früh in den Regalen liege. Die Migros nahm die Kritik auf und schlug vor: Für jeden Like-Button auf ihrer Facebook-Seite werden 100 Gramm Weihnachtsguetzli an Schweizer Kinderheime gespendet. Fast eineinhalb Tonnen Gebäck wurden somit direkt in Heime geliefert.

In den USA ist man einige Schritte weiter

In den USA stossen Meinungen und Emotionen von Usern auf mehr Gehör in der Politik. Erik Jentges erklärt: «Die Entwicklung in den USA ist uns einige Schritte voraus: Zum einen sind die technischen Nutzungsmöglichkeiten von Onlineportalen fortgeschrittener und zum anderen treten die Menschen risikofreudiger auf. In den USA weiss man, wie mit Online-Kritik umzugehen ist.»

Kampagnen, die auf Empörungswellen «surfen» und dabei Onlinemedien aktiv und innovativ nutzen, werden auch in der Schweiz zunehmend den politischen Prozess begleiten. Hier und da könnte die usergenerierte Entrüstung zwar die politische Agenda diktieren, was momentan aber noch die Ausnahme bleiben wird. In Zukunft jedoch müssten wir uns auf mehr digitale Empörungsstürme einstellen, so Erik Jentges. Denn der Umgang mit Online-Medien wird für einen grossen Teil der Schweizer Bevölkerung alltäglicher.

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