Eigentlich war alles mal ganz pragmatisch gemeint. Als der Eurovision Song Contest 1956 erfunden wurde, ging es weder um Musik noch um Politik, noch um eine paneuropäische Identität. Sondern erstmal um die Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen Rundfunkanstalten der europäischen Länder.
Das Fernsehen war damals das neue Medium. Man wollte testen, was es technisch braucht, um in den damals sieben Mitgliedsländern der European Broadcasting Union (EBU) simultan das gleiche Programm auszustrahlen – und wie hoch die Einschaltquoten bei einem gemeinsamen Programm wären.
Keine politische Botschaften
Die politische Dimension des ESC war nie beabsichtigt. Laut Reglement der EBU versteht sich der Wettbewerb sogar als unpolitisch. Seit 2016 formuliert sie explizit in ihren Reglements:
Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt. Dies gilt ebenso für Texte oder eine Bühnenshow, die den Wettbewerb allgemein in Misskredit bringen könnten oder Werbung für Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen machen.
Bereits vor 2016 gab es ähnliche Reglements, sagt der Historiker Dean Vuletic von der Universität Wien, der zur politischen Geschichte des Eurovision Song Contests forscht. Ab 2000 hiess es etwa, ein Land dürfe am ESC kein anderes verunglimpfen.
Blick zurück (I): Karel Gott und der Kalte Krieg
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Zur Zeit des Kalten Krieges durften die Ostblock-Staaten nicht am «Grand Prix Eurovision de la Chanson»
teilnehmen. Also gründeten sie ihren eigenen Wettbewerb: den Intervision Song Contest. Er fand von 1960 bis 1980 statt und wurde zu einer Austauschplattform zwischen Ost und West.
Immer wieder rekrutierte der Westen dort auch Kandidaten für den Grand Prix. Helena Vondráčkovázum Beispiel gewann 1977 den Intervision Song Contest. 1978 tritt sie am Grand Prix an - für Deutschland.
Der tschechoslowakische Sänger Karel Gott holt 1968 den Intervision-Sieg. Im gleichen Jahr schickt ihn Österreich zum Grand Prix, mit dem symbolischen Lied «Tausend Fenster», das von der Entfremdung von Ost und West im geteilten Europa erzählt.
Dass Karel Gott Österreich überhaupt vertreten konnte, lag am Prager Frühling, der Zeit der Liberalisierung: Weil die Zensur gelockerte wurde, konnte das tschechoslowakische Fernsehen mit dem österreichischen kooperieren. Ein Paradebeispiel für kulturelle Diplomatie.
«Dieses Reglement hatte die EBU damals vor allem eingeführt, damit politische Botschaften an einer hochkommerziellen Veranstaltung wie dem ESC nicht die Werbekunden verschrecken», erklärt Vuletic.
Das Land bestimmt die Themen
Mit der heutigen Formulierung will die EBU eine Art unpolitischen Ethos durchsetzen, vergleichbar mit jenem an den olympischen Spielen oder der Fussball-WM.
Aber die Realität sieht anders aus: Einerseits findet der ESC immer im politischen Kontext des jeweiligen Landes statt. Dessen inneren Konflikte und Widersprüche kann er auch durch noch so viel Glamour nicht überstrahlen.
Dieses Jahr in Israel reichte das von der Frage, wie der Sabbat zu respektieren sei, über Boycottaufrufe bis zur Gewalteskalation im Gazastreifen.
Alles andere als harmlos
Andererseits sind auch die Lieder, die am ESC gegeneinander antreten, nicht so harmlos, wie sie auf den ersten Blick erscheinen.
Blick zurück (II): Offene Feindschaften am ESC
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Immer wieder wurde am ESC auch offen die Feindschaft zwischen zwei Ländern ausgetragen.
Zum Beispiel: Griechenland und die Türkei 1975. Griechenland protestierte gegen den Einmarsch der Türkei in Zypern, indem es die Teilnahme am ESC in Stockholm verweigerte.
Ein Jahr später ist Griechenland wieder mit von der Partie – mit dem Lied «Panayia Mou, Panayia Mou». Darin singt Mariza Koch davon, wie die Türkei mit der Brandwaffe Napalm Zypern zerstört.
Die Türkei gab die Retourkutsche: Sie blieb nun dem ESC fern. Und bei der Übertragung des Wettbewerbs griff sie zur Zensur - anstelle des griechischen Beitrags strahlte das türkische Fernsehen ein nationalistisches türkisches Lied aus.
Georgiens Protest gegen Russland am ESC 2009 in Moskau hingegen wurde nicht gehört. Ein Jahr nach dem Kaukasuskrieg wollte Georgien mit dem Lied «We Don't Wanna Put In» antreten. Doch das tönte dann doch zu offensichtlich nach «We don't want a Putin». Die EBU schloss Georgien von der Teilnahme aus.
Sie spiegeln, kommentieren und katalysieren die Zeitgeschichte: 2015 zum Beispiel nahm die armenische Band Genealogy
mit dem Song «Face the Shadow»
teil, in dem es um die heutigen Spuren des Genozids an den Armeniern ging.
Oder die ukrainische Band Jamal
gewann 2016 mit einem Song
, der von der Deportation der Krimtataren 1944 erzählt.
Die EBU prüft jedes Lied im Vorfeld. Aber wenn sich eine Band für unterdrückte Minderheiten oder eine Erinnerungskultur stark macht, kann sie dies kaum verbieten. Und am Ende hat sie nicht in der Hand, wie das Lied gelesen und aufgeladen wird oder welche Botschaften es versteckt hält.
Blick zurück (III): Zukunftsvisionen am ESC
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Oft formulieren ESC-Lieder ganz konkrete Utopien: Der erste ESC nach dem Ende des Kalten Krieges fand 1990 in Zagreb statt. Der Gewinner: der Italiener Toto Cutugno.
In seiner Ballade «Insieme 1992» formuliert er die Hoffnung, dass Europa die Teilung des Kalten Krieges überwinden könne. Er singt von einem vereinigten, grenzenlosen Europa mit geteilten Idealen – zwei Jahre vor dem Gründungsvertrag der Europäischen Union.
Toto Cutugno singt nicht nur Worte der Einigkeit, sondern demonstriert sie auch: Seine Backgroundsängerinnen gehören zur slowenischen Gruppe «Pepel in Kri».
Am Ende seiner Performance tritt Cutugno vor die politischen Führer Jugoslawiens im Publikum. «Insieme 1992» wird zum Schwanengesang für die jugoslawische kommunistische Partei: Am Tag drauf finden die ersten freien Wahlen statt, bei denen Franjo Tuđman gewinnt und Kroatien in die Unabhängigkeit führt.
Das Publikum nicht unterschätzen
Dean Vuletic ist dafür, dass die EBU das Reglement, das politische Statements verbietet, wieder abschafft. Mit einem starken Argument: «Die letzten Jahre haben deutlich gezeigt, dass das Publikum Songs mit politischer oder sozialer Botschaft hören und sich damit identifizieren will.»
Der ESC 2019 auf SRF
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Der «Eurovision Song Contest» findet in Tel Aviv statt. 41 Länder nehmen teil – 20 davon werden im Finale sein.
SRF überträgt das 2. Halbfinale am 16. Mai auf SRF zwei und das Finale am 18. Mai auf SRF 1 – und
begleitet den ESC online.
Politische Lieder werden vom Publikum oft mit Punkten belohnt. Anders die Jury: Sie punktet politische Songs tendenziell eher nach unten.
Trotzdem wird es letztes Jahr nicht nur die Ohrwurmtauglichkeit von Nettas Lied «Toy» und ihre überzeugende Performance gewesen sein, die sie zur Siegerin machten. Sondern auch der Umstand, dass ihr Lied inhaltlich eine Antwort auf die #MeToo-Debatte war.
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