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Was für ein Winter Da fehlen uns die Worte

Corona hat uns neue Wörter geschenkt. Andere sind einfach nicht mehr da – oder noch nicht. Ein paar Vermisstenanzeigen.

«Den Kopf haben sie wohl zuhause vergessen!» Meistens rufe ich so etwas, reflexhaft wie ein Rüpel. Dabei fehlen mir die Worte. Oder liegt es gerade daran?

Gibt es eigentlich schon ein verbindliches Wort für die komische Kreuzung aus Wut und Ohnmacht, die einen befallen kann, wenn man Bewegtbilder aus der Welt vor Corona sieht, und es will einem höchstens ein «Geht's noch» entfahren? Oder auch nur «grmpf».

Sagen wir, zwei Menschen, die sich eben erst kennengelernt haben, fallen sich um den Hals – in einem farblosen französischen Film (vermutlich), den wir uns zuhause (wo sonst) auf dem Sofa anschauen. Da bekommt ein Wort wie «lebensgefährlich» eine ganz neue Bedeutung.

Ein Paar küsst sich neben einem Mann, der eine Pistole gegen sich richtet.
Legende: Vor Corona war die Knarre der Killer: Kussszene aus der Komödie «Fisch oder Fleisch». imago images / United Archives

Zum Beispiel «dabii»

Ich rede mir gerne ein, ich sei nicht auf den Mund gefallen. Aber seit Corona bin ich zuverlässig sprachlos – Tendenz zunehmend. Mir fehlen auch ein paar Wörter, die vielleicht nur mir ganz allein fehlen.

«Dabii» zum Beispiel. Es gab in jenen vor-pandemischen Zeiten, da wir noch ein Team von Redaktorinnen und Redaktoren aus Fleisch und Blut waren und keine Zoom-Zombies, eine «Dabii»-Gruppe von Selbstversorgern, die sich von jener der Mitbringmuffel und Auswärtsesser insofern unterschied, als sie sich zur Lunchzeit am liebsten von Leftovers vom Vortag ernährte.

«Häsch dabii» war unser Schlachtruf, kaum hatte die Studiouhr 5 nach 12 geschlagen. Wobei es wahnsinnig wichtig war, dieses «Dabii» auf eine leicht affektierte Weise hochdeutsch einzufärben, um es maximal mit dem helvetischen «Häsch» zu kontrastieren.

Man muss vielleicht wissen: Dieses «D-Wort» wurde einst von einer deutschen Kollegin eingeschleppt und verbreitete sich so rasend rasch, wie das nur Sprachviren können, die den berühmten Nerv der Zeit treffen.

Kaffee mit Kutteln

«Dabii.» Das Wort kam mir kürzlich völlig unvermutet über die Lippen, als ich einen Kollegen beim Kaffeeklatsch vor laufender Computerkamera nach seinen Lunchplänen fragte. Er: «Im Homeoffice? Ha-ha.»

Vielleicht hatten meine Kinder da etwas angestossen, die mich, kaum stehen sie mittags in der Küche, immer fragen, selbst wenn ich ihnen keine Kutteln oder andere Kotzbröckchen vorsetze: «Und was gibt es morgen?»

Eher wahrscheinlich: Der Kollege und ich stolperten kurz über die Sprache, weil die Schweiz gerade ihre Wörter dieses Coronajahres gekürt hatte.

Mutter und die Mundhöhle

Wäre es nicht mindestens so systemrelevant, dachte ich also laut, Wörter zu sammeln, die man seit Corona nicht mehr braucht? Bis eben waren sie in fast aller Munde – jetzt sind sie so nutzlos geworden wie ein GA, das Gästebett oder roter Lippenstift?

Müsste man nicht damit anfangen, verschwindende Vokabeln vom Typ «Ausgang», «Live-Konzert» oder eben mein, ich meine, unser aller «Dabii» festzuhalten, das sich fast so fremd anfühlt, wie wenn ich «Mama» sage und meine Mutter meine, die seit fünf Jahren tot ist.

Jetzt fehlen mir wirklich die Worte.

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