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ein ältere Frau liegt im Bett und telefoniert
Legende: Während der Pandemie ist zuweilen das Telefon die einzige Verbindung zum Pflegeheim. Die gilt es zu nutzen. imago images / photothek

Was für ein Winter Der literarische Draht ins Pflegeheim

Man hat es geübt mit den eigenen Kindern – jetzt ist die betagte Mama dran. Die alte Technik des Vorlesens findet neue Verwendung – per Telefon ins Pflegheim.

Festtage können lang werden im Pflegeheim. Die 85-jährige Mutter für Weihnachten nach Hause nehmen? Nix da. Sie darf nicht raus in diesem verrückten Jahr.

Vorlesen für den Telefonhörer

«Hast Du Zeit?», frage ich unsinniger Weise. Natürlich hat meine betagte Mutter längst keine Termine mehr. Sie ruckelt sich geräuschvoll im Bett zurecht. Ich mache es mir im Sessel bequem, lege den Hörer auf die Brust, damit ich blättern oder swipen kann, stelle den Lautsprecher ein, und los geht’s.

Meine Mama kann keine modernen Gerätschaften bedienen. Überhaupt ist sie vergesslich, sie sieht und hört nicht mehr gut. Aber die vertraute Stimme aus dem vertrauten Telefonapparat hört sie gut und gerne. Wenn ich sie nicht im Heim besuchen kann, lese ich meiner Mutter übers Telefon Geschichten vor.

Wörter leuchten lassen

Dabei übe ich das Vorlesen und werde immer mutiger. Ich tue, als wäre ich eine richtige Schauspielerin: Mal werde ich laut, gebe den Sätzen Verve und schmiere Gefühle drauf.

Oder ich nehme mich zurück und lasse die Wörter leuchten. Die Würze liegt, wie so oft, in der Abwechslung. Die Mama freut’s so oder so, und peinlich ist es höchstens mir selbst. Wir sind unter uns.

Arno Geiger statt Thomas Mann

Auf die Auswahl der Texte lege ich viel Wert. Nein, Thomas Mann ist nichts für meine Mutter (nichts gegen Thomas Mann). Ich achte auf kurze Sätze in einer schönen Sprache und ohne komplizierte Nebensätze.

Gewisse Romane eignen sich für tägliche Vorlese-Sessions – je nach Vergesslichkeitsstufe der Hörerin. Besonders schön waren die Telefonstunden mit meinem Lieblings-Demenz-Roman von Arno Geiger «Der alte König in seinem Exil» von 2011. Wenn Mama nicht mehr wusste, was ich gestern vorgelesen hatte, war es auch egal.

Logischerweise eignen sich Erzählungen und Kurzgeschichten, zum Beispiel jene von Lucia Berlin. Erlaubt ist, was Spass macht und einen guten Rhythmus hat.

Nie beleidigt sein

Und ehe ich es vergesse: Man darf nie beleidigt sein, wenn die Geschichte nicht gefällt. Oder, wenn es plötzlich am andern Ende der Leitung leise zu schnarchen beginnt. Ist nicht bös' gemeint. Morgen geht's weiter.

Nachtrag vom Januar 2021: Ein paar Tage nach Publikation dieses Textes ist meine Mutter plötzlich verstorben. Unsere letzte Lektüre war der Erzählband «Aber es wird regnen» von Clarice Lispector. Wir sind nicht sehr weit gekommen.

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