SRF: Laut UNO zeichnet sich «eine der grössten humanitären Katastrophen seit der Gründung der Vereinten Nationen» 1945 ab: Rund 30 Millionen Menschen im Jemen, im Südsudan, in Somalia sowie in Nigeria sind demnach vom Hungertod bedroht. Was sind die Gründe für die aktuelle Situation?
Shukri Ahmed: Ein Grund ist die Dürre seit 2015, ausgelöst durch das Wetterphänomen El Niño. In den Ländern, die aktuell besonders betroffen sind, herrscht zudem ein regionaler Konflikt – kombiniert ergibt das eine humanitäre Krise von nie dagewesenem Ausmass.
Diese politischen Gründe, die dazu führen, dass Menschen ihr Feld nicht mehr bestellen, sich nicht um ihr Vieh oder Fisch kümmern, muss die Welt in Angriff nehmen. Denn in den Ländern, die stark von Hunger betroffen sind, hängen die meisten Menschen von der Landwirtschaft ab.
Konflikte wie im Südsudan sind meist schwer durchschaubar. Inwiefern kann die internationale Staatengemeinschaft helfen?
Unmittelbar investieren wir in den agrikulturellen Bereich, etwa in Tierzucht und Ackerbau-Methoden. Aber natürlich dürfen wir auch die längerfristigen Wurzeln des Problems nicht vergessen. Wir müssen die Protagonisten viel aktiver einbinden, um das Problem von Unterentwicklung und Unterinvestition, vor allem im bäuerlichen Umfeld, zu lösen.
Die Leute, die Unterstützung benötigen, sind nicht hilflos. Aber sie haben keinen Zugang zum globalen Markt, damit sie ihre Ressourcen besser nutzen können. Sie sind ausgeschlossen von den Entscheidungsprozessen über ihre Lebensgrundlagen, wie Wasser, Energie und Land.
Sobald eine Dürre ausbricht, fehlt die Absicherung, fehlen die Reserven und die regulierenden Mechanismen des Marktes.
Es ist heute viel leichter, angesichts von Hungerkrisen frühe Warnsignale zu erhalten.
Bei uns liegt die letzte Hungersnot über 200 Jahre zurück – in Industrieländern kommen Hungersnöte heute praktisch nicht mehr vor. Inwiefern begünstigte der technologische Fortschritt die Bekämpfung des Hungers?
In der Vergangenheit hatten Hungersnöten oft Millionen von Toten zur Folge. Heute können viele Opfer dank einer besseren Infrastruktur, etwa Transportmittel, Strassen und Spitälern, verhindert werden. Die Welt ist zudem viel vernetzter und es ist viel leichter, angesichts von Hungerkrisen frühe Warnsignale zu erhalten.
Über Satellitenbilder können wir etwa den Verlauf einer Dürreperiode voraussagen. In einigen abgelegenen Gebieten wird aktuell die Telekommunikation ausgebaut. Dadurch gelangen Informationen, was vor Ort passiert, leichter zu uns. Gleichzeitig kann über ein Smartphone auch Geld aus jedem Teil der Welt empfangen werden, auch wenn es z.B. keine Banken und Büros für Geldtransfer gibt.
Aber es muss aus diesen Möglichkeiten auch die Reaktion folgen, bevor es zu spät ist. Sie müssen nicht nur in Einzelfällen, sondern in grossem Ausmass genutzt werden.
Wir haben das Wissen und wir kennen die Mittel gegen Hunger.
Rechnerisch gesehen gibt es auf der Welt genügend Nahrungsmittel. Weshalb gibt es im 21. Jahrhundert noch Hungersnöte?
Die eine Seite sind Zufälle: Dürre passiert. Eine Flut passiert. Solche natürlichen Phänomen passieren von Zeit zu Zeit, wenn sie auch durch den Klimawandel verstärkt werden.
Die andere Seite ist, dass Menschen über Dürre und die damit einhergehende Ernährungsunsicherheit Bescheid wissen. Wir haben das Wissen und wir kennen die Mittel dagegen. Das heisst im Endeffekt: Wir haben nicht genug getan, damit Hungersnöte nicht passieren.
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Ist der Hunger heute also menschengemacht?
Ja, es ist im Grunde eine menschliche Entscheidung, wenn ein Schicksalsschlag sich in eine humanitäre Katastrophe verwandelt. Die Verantwortung dafür trägt nicht eine Region oder ein Land alleine.
Es ist eine internationale Verantwortung, die Folgen des Klimawandels zu minimalisieren und längerfristig Hunger zu verhindern. Hier müssen wir beharrliche Entschlossenheit an den Tag legen.
Das Gespräch führte Mirja Gabathuler.