«Mein Vater hatte nicht einmal einen Koffer. Nur mit Stoffschuhen kam er in der Schweiz an. Mitten im Winter.»
Maria Stergiou ist sieben Monate alt, als die Eltern das Kind in die Obhut der Grossmutter geben, um in der Schweiz als Gastarbeiter Arbeit zu suchen. Sie treten eine Reise ins Ungewisse an.
Bleiben wollen sie ein Jahr. Höchstens zwei.
Besuch von fern
Nach drei Jahren kommen sie nach Griechenland zurück, aber nur um ihre Tochter zu besuchen.
Die Leute sagten mir: ‹Das sind deine Eltern.› Für mich bedeuteten die Worte nichts.
Maria Stergiou erinnert sich, wie ein Auto ankommt und zwei wunderschön gekleidete Menschen aussteigen, in den Armen ein Kind. Ihr Brüderchen, in der Schweiz geboren.
«Die Leute sagten mir: ‹Das sind deine Eltern. Deine Mutter, dein Vater.› Für mich bedeuteten die Worte nichts. Schliesslich war meine Grossmutter mein Ein und Alles, mein Daheim.»
Fremdes Land, fremde Eltern
Maria ist zehn Jahre alt, als die Eltern sie in die Schweiz holen. Ein Schock sei das gewesen: fremdes Land, fremde Sprache, fremde Eltern.
Sie muss die geliebte Grossmutter und ein Stück Kindheit zurücklassen. Zwar seien die Verhältnisse in Griechenland karg gewesen, kein fliessendes Wasser, keinen Strom. Dafür aber gab es Platz, Freiheit und Geborgenheit.

Damit ist erstmal Schluss, als sie zu ihren Eltern in einen Block in Zürich Schwamendingen zieht. «Es gab im Haus nur wenig Zugewanderte. Wir Kinder durften nicht laut reden, ich fühlte mich unter Beobachtung. Meine ganze Freiheit, mein Selbstausdruck – da gab es einen Deckel drauf.»
Unfrei und verunsichert: So erlebt sie auch die Eltern. Dankbar zwar, dass sie eine Arbeit haben, die Kinder zur Schule können. Doch: «Vom Wesen her habe ich sie als unterdrückt und unsicher erlebt. Sie lebten nach dem Motto: ‹Ja nicht auffallen! Wir sind hier Gast›.»
Die Eltern sprechen nur wenig Deutsch. Italienisch können sie hingegen fliessend. Sie haben es von anderen Gastarbeitern gelernt.
Alles für später
Marias Mutter und Vater arbeiten hart. Sie haben zwei, manchmal drei Jobs, für die sie wenig Wertschätzung bekommen. Aber sie haben einen fixen Plan: «Irgendwann kehren wir nach Griechenland zurück.»
Es ist ein Credo, ein Lebensplan. Ein Ziel, dem alles untergeordnet wird. «Meine Eltern waren häufig erschöpft, hatten wenig Zeit für uns Kinder. Die Priorität war, das Überleben zu sichern.»
Die Bildung war meine Rettung, mein Fundament.
Maria lernt früh auf eigenen Beinen zu stehen, übersetzt für die Eltern in der Schule, bei den Behörden. Ein Kraftakt am Ende der Kindheit, anfangs der Pubertät: «Ich weiss nicht, woher ich diese Kraft hatte. Aber ich weiss, dass ich so schnell wie möglich Deutsch lernen wollte, um dieses Chaos zu überleben.»
Maria lacht, wenn sie das heute erzählt, fast erleichtert. Und atmet tief aus. «Die Bildung war meine Rettung, mein Fundament.»
Die leise Traurigkeit der Eltern
Maria geht gern zur Schule, kommt bald ins Gymnasium. Sie erkämpft sich ihr neues Daheim in der Schweiz.
Die Eltern aber finden hier keine Heimat. Sie sind mit Überleben beschäftigt – immer in der Hoffnung, bald heimzukehren. Die Tochter spürt die leise Trauer der Eltern – auch darüber, dass ihre Welten je länger je mehr auseinanderdriften.

Maria Stergiou hofft lange, dass die Eltern in der Schweiz doch noch eine Heimat finden und den Plan aufgeben, nach Griechenland zurückzugehen. «Ich wollte, dass sie bleiben. Hier bei uns, bei ihren Kindern.» Den Plan zurückzukehren hätten die Eltern aber nie aufgegeben.
Pure Freude und ein wenig Enttäuschung
Maria Stergiou ist 26 Jahre alt, als die Eltern gehen. Nach 30 Jahren kehren sie zurück nach Griechenland. «Es war für sie ein Neuanfang. Diesmal mit umgekehrten Vorzeichen.»
Bei ihnen herrschte pure Freude. Sie hatten nicht das Gefühl, etwas zurückzulassen.
Sie hatten Geld gespart, das Überleben der Familie gesichert, den Kindern eine Top-Ausbildung ermöglicht. Der Sohn hat am Konservatorium studiert, Maria Stergiou Kunstgeschichte, Deutsch und Ethnologie. «Unsere Eltern blühten auf, je konkreter die Abreise wurde.» Als würden sie in die Freiheit zurückkehren.
Der Tag der Abreise ist für Maria Stergiou surreal. Mit einem vollbepackten Auto brechen die Eltern in euphorischer Stimmung auf. «Bei ihnen herrschte pure Freude. Sie hatten nicht das Gefühl, etwas zurückzulassen, obwohl sie so lange da waren.»
War diese Euphorie schmerzhaft für die Tochter? War sie wütend, dass die Eltern sie ein zweites Mal zurückliessen? «Ich war ein bisschen enttäuscht», erinnert sie sich.
Trennung, Brücken schlagen, erneute Abbrüche, Wiederanfang: Die Biografie von Stergiou ist davon geprägt. «Das gehört für Gastarbeiterkinder dazu, es ist normal. Genauso wie die Wut darüber.»
Alles für die Kinder
Maria Stergiou betont, dass sie den Lebensplan ihrer Eltern respektiert. Sie wisse, wie entbehrungsreich die 30 Jahre in der Schweiz für sie waren, und dass die Eltern diese Strapazen auch für ihre Kinder auf sich genommen haben.
Strapazen, die tief in den Körper eingeschrieben sind. Maria erzählt vom letzten Besuch der Mutter in Zürich: «In gewissen Gassen und Quartieren überkam die Mutter wieder diese Existenzangst. Herzklopfen. Nach so vielen Jahren war sie zurückgeworfen in die Erfahrung von damals.»
Offenbar strahlten meine Eltern etwas aus. Das Wissen, was es bedeutet, entwurzelt zu sein.»
Seit gut 20 Jahren leben die Eltern wieder in Griechenland. Im Dorf, das sie mit Mitte 20 verlassen haben. Das Ankommen sei schwer gewesen, erzählt Maria Stergiou. In Griechenland galten ihre Eltern erneut als «die Ausländer» und die Leute aus der Gegend hatten zunächst keine Ohren für die Heimgekehrten.
Ein Café für alle
Das änderte sich erst, als die Eltern ein kleines Café eröffneten. «Die Leute kamen, tranken einen Kaffee. So konnten meine Eltern wieder Beziehungen knüpfen.»

Und es kamen albanische Gastarbeiter ins Café. Zu ihnen, den ehemaligen Gastarbeitern. «Das Café meiner Eltern war der einzige Ort, wo die Gastarbeiter hingingen. Offenbar strahlten meine Eltern etwas aus. Vielleicht Verständnis – das Wissen, was es bedeutet, entwurzelt zu sein.»
Ein Lebensplan, der aufging
Heute sind die Eltern 74 und 87 Jahre alt. Maria Stergiou hat nicht aufgehört, sie zu vermissen. Manchmal sagen die Eltern am Telefon, dass sie gerne nochmals in die Schweiz zurückkommen würden.
Doch im Grunde zähle für die Eltern nur zu sehen, «dass ihre Kinder in der Schweiz ein Leben führen, dass sie lieben. Sie sind stolz auf uns. Dass wir es geschafft haben». Dass der Lebensplan aufgegangen ist.
Und ihre Eltern seien stolz auf den Mut, den sie damals aufgebracht hatten. Dass sie in ein unbekanntes Land aufgebrochen sind, sich ein besseres Leben errungen haben.
Auf diesen Mut sei sie auch stolz, sagt Maria Stergiou. Und auf den Durchhaltewillen ihrer Eltern, der Gastarbeiter.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 24.2.20, 9:02 Uhr
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