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Kunst Blindlings durch die Gerüche im Tinguely Museum

Yvonn Scherrer nimmt die Welt mit allen Sinnen wahr – ausser mit ihren Augen. Die blinde Autorin geht gerne ins Museum, erst recht, wenn es sich um eine Ausstellung über Gerüche handelt. Doch bei der Schau «Belle Haleine» im Basler Tinguely Museum fühlt sie sich an der Nase herumgeführt.

Museen bieten viel. Nur ist das meiste hinter Glas ausgestellt. Unzugänglich für die Sinne, die mir geblieben sind und die ich seit Jahr und Tag trainiere. Ich gehe gern ins Museum. Weil ich gerne lerne. Wichtig ist, dass ich einen passenden Augenmenschen finde, der mir eine Brücke durchs Glas schlägt. Und der es erträgt, wenn ich zwischendurch wütend oder traurig werde wegen so viel Glas.

Ich wähle Michael aus meinem «Elfencorps» – so nenne ich den Pool meiner Assistenten –, weil er die feinste Nase hat. In der Hoffnung, dass die Ausstellung «Belle Haleine – Der Duft der Kunst» im Basler Tinguely Museum viel bietet, das nicht hinter Glas ist. Wir verziehen uns mit den Ausstellungsunterlagen ins Museumskaffee. Mein «Elfe» liest mir die Infos zu den Exponaten vor, streicht an, was mich interessiert. Dann nichts wie los.

Am schlimmsten sind die Sexuallockstoffe

Düfte sind flüchtig. Einmal losgelassen, verteilen sie sich im ganzen Raum und mischen sich unkontrolliert. Im Tinguely Museum riecht es ungewollt gleichzeitig nach Gewürznelken, Lösungsmittel, synthetischen Duftmolekülen. Schon bald wird uns schlecht. Am schlimmsten sind die Sexuallockstoffe, die künstlich entworfen wurden. Niemand weiss, wie menschliche Pheromone riechen und ob der Mensch sie überhaupt noch wahrnehmen kann. Anziehend sind sie für uns nicht, sie stimmen uns aggressiv. Die Luft im ganzen Haus ist geschwängert davon.

Wer einen Duft aufbewahren will, muss ihn in einen Flakon sperren. Das liegt in der Natur der Sache. Vor einer Glasvitrine zu stehen, einen Flakon zu sehen, der alle Düfte des nahen Solitude-Parks beinhaltet, und diese nicht geniessen zu können: Das befremdet. Klar kann man sagen: Es regt die Fantasie an. Aber sich einen Duft im Kopf vorzustellen, gelingt nur Menschen mit besonders feinen Nasen. Für die meisten ist es eine unüberwindbare Überforderung. An der Nase herumgeführt, stehe ich auch diesmal vor vielen Gläsern oder vor Absperrungen.

Angstschweiss, Gas, Schwefel, Rauch

Geduldig höre ich Michaels Beschreibungen zu. Frage nach, wenn sich mir etwas nicht erschliesst. So lange, bis ich mir ein Bild des Exponates machen kann. Wenn ich etwas nicht verstehe, suche ich Vergleiche mit Dingen oder Situationen, die ich kenne. So taste ich mich innerlich ans Exponat heran. Mein Führhund Safir kommt mit, für ihn muss das noch ungleich anstrengender sein mit seiner vielfach feineren Nase. Er bleibt gelassen. «Es gehört nun mal zum Job, dass es manchmal streng riecht», würde er sagen, wenn er reden könnte.

Düfte gehen direkt in die «Gefühlsküche» in unserem Gehirn. Düfte wollen erlebt sein, entziehen sich den Archivierungsmethoden. In den meisten Räumen, in denen sich etwas erleben lässt, stinkt es leider, entweder nach synthetisiertem Angstschweiss, nach Gas, Schwefel, Abgas oder nach Rauch. Der Titel der Ausstellung wirkt in diesen Räumen zynisch, ganz besonders der Untertitel «Der Duft der Kunst».

Bitte nicht berühren!

Mein Lieblingsraum ist der Raum mit dem «Gewürzbazar». Überall hängen Nylonschläuche, die mit Gewürzpulver gefüllt sind: Ingwer, Kurkuma, Nelken – am Boden stehen Gewürzsäckchen. Der Raum lässt sich schliessen, das Duftgemisch von allen anderen Räumen ist hier nur schwach. Und die Farben der Gewürze hinter den durchscheinenden Strümpfen von Gelb über Orange zu Braun stelle ich mir ansprechend vor.

Wie wir unsere Nasen und Hände behutsam den Nylonschläuchen nähern, eilt eine Aufseherin herbei. «Der Chef hat ausdrücklich heute Morgen gesagt, dass auch die Blinde nichts berühren darf», belehrt sie uns. «Meine Hände sind aber meine Augen. Ich muss mich auf den Dreh vorbereiten. Wie soll ich sonst …»

«Ich weiss. Aber trotzdem», antwortet sie, «wenn die anderen Museumsgäste das sehen, dann wollen sie auch.» Nach langem Hin und Her gelingt es uns, eine einmalige Berührbewilligung zu erhalten.

Zum Glück gibt's Kaffeeduft

Das Bett mit dem eingelassenen Lilienduft dürfen wir berühren. Wir dürfen uns sogar hinlegen. Der eiskalte Chromstahl ist wenig einladend. Doch durch die Löcher im Stahl streicht ein angenehmer Blütenduft. Lilien riechen betäubend. Die Künstlerin zeigt, dass Düfte, die man früher oft brauchte, um Frauen vor Ohnmachten zu bewahren oder aus Ohnmachten zu wecken, auch zu einer Ohnmacht führen können. Doch weil sich der Grossteil des Lilienduftes bereits verflüchtigt hat, ist er bloss wie eine sanfte Berührung einer Hand auf meinem Gesicht.

Yvonn Scherrer

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Yvonn Scherrrer ist Theologin, Autorin und Redaktorin bei Radio SRF 1.

Im Duftkino werde ich tatsächlich fast bewusstlos, die synthetischen Düfte sind zu viel für meine feine Nase. Da wirkt der Raum mit der Maschine, die ohne Unterlass Zigaretten qualmt, geradezu erholsam. Nach zwei Stunden flüchten wir uns zurück ins Kaffee, um mit dem würzigen, reinen Kaffeeduft unsere Nasen zu neutralisieren. Auch Michael ist erschöpft. «So wenig Wohlgeruch», sagt er enttäuscht, «regt nicht gerade dazu an, mehr der Nase nach zu gehen. Geschweige denn der Kunst.»

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