Alberto Giacometti hat über 40 Jahre in einem bescheidenen Atelier in Montparnasse gelebt und gearbeitet. Im berühmten Pariser Stadtteil befindet sich auch das neue Institut Giacometti, in einer Jugendstil-Villa in der Rue Victor Schoelcher.
Der Countdown läuft
Vor dem Eingang steht ein kleiner LKW. Ein paar junge Männer heben vorsichtig grosse, flache Kästen von der Ladefläche, tragen sie in die erste Etage der Villa.
Drinnen herrscht hektisches Treiben: In knapp 24 Stunden ist die Presse eingeladen, doch die Ausstellungsräume sind noch nicht fertig: Handwerker streichen vergessene Ecken nach, die gelieferten Bilder müssen noch aufgehängt werden. Nur im lichtdurchfluteten zentralen Saal ist alles bereit.
Erstmals in Frankreich ausgestellt
In diesem Saal ist eine der Hauptattraktionen der Ausstellung in Szene gesetzt: Giacomettis berühmten «Frauen aus Venedig» in bemalten Gips.
Die Skulpturen-Gruppe, die zum ersten Mal in Frankreich ausgestellt wird, wurde restauriert. Auch Giacomettis Pinselstriche und -linien, mit denen er die sechs Frauengestalten bearbeitet hat, sind wieder da.
Beziehung zu Jean Genet
Roter Faden der Eröffnungsausstellung ist Giacomettis Künstlerfreundschaft mit dem französischen Schriftsteller Jean Genet. Diesen lernte er 1954 über Jean-Paul Sartre kennenlernt.
Aus den reichen Beständen der Pariser Fondation Giacometti wurden Werke ausgewählt, die in dieser Zeit entstanden sind: Skulpturen, Bilder und Zeichnungen, die Genet bei seinen regelmässigen Besuchen im Atelier seines Künstlerfreundes gesehen und über die er auch geschrieben hat.
Fasziniert von Prostituierten
Es sind Arbeiten wie die Bronze-Skulptur «La cage»: Eine Prostituierte gefangen in ihrem Käfig. Sie scheint in die Ferne zu schauen. Der Männerkopf auf dem langen Hals, mit dem sie den Käfig teilt, blickt in die andere Richtung.
Prostitution ist für Giacometti und Genet ein wichtiges Thema, erklärt Ausstellungs-Kommissarin Serena Bucalo-Mussely. «Wir wissen, dass Giacometti regelmässig im Pariser Bordell ‹Sphinx› verkehrte. Die Prostituierten haben für ihn auch Modell gesessen.»
Mehre Prostituierten-Skulpturen aus den 1950er-Jahren zeigen Giacomettis Wahrnehmung dieser Frauen: Sie ziehen ihn an und machen ihm gleichzeitig Angst.
Erstaunlich modern
In den vier Ausstellungsräumen der ersten Etage ist nur eine begrenzte Zahl von Giacomettis Kunstwerken zu sehen. Aber es sind besonders eindrucksvolle Stücke, die in der wunderbar renovierten Atelierwohnung mit ihren Art-Déco-Tapesserien, Mosaiken und Ornamenten erstaunlich modern wirken.
Ein ehrgeiziges Projekt
Aber das Giacometti-Institut hat noch mehr zu bieten: Die Besucher können Giacomettis persönliche Bibliothek entdecken, Briefwechsel und Notizen lesen, dem Künstler gewissermassen in den Kopf gucken.
Ausserdem es gibt ein wissenschaftliches Archiv mit tausenden Zeichnungen, Drucken und Dokumenten aus dem Nachlass Alberto Giacomettis.
Catherine Grenier, Direktorin der Pariser Giacometti-Stiftung und des neuen Instituts, will einen vielseitigen Ort schaffen. Das Institut soll die Forschung der Kunsthistoriker unterstützen und gezielt die jungen Generationen für Giacometti interessieren, denn: «Wir stellen heute fest, dass sie sich immer weniger für die Werke der modernen Kunst interessieren.»
Giacomettis «Höhle»
Dann spitzt Catherine Grenier die Ohren. «Es ist soweit!», ruft jemand die Treppe hoch. Die Direktorin kann jetzt das originale Atelier Giacomettis zeigen, das noch im Erdgeschoss rekonstruiert wird.
25 bescheidene Quadratmeter, die Giacometti seine «Höhle» genannt und die nur selten verlassen hat. Grosse und kleine Skulpturen drängen sich auf kleinem Raum, in der Ecke steht ein Bett. Der Arbeitstisch ist übersät mit Pinseln und Farbtuben. Vor einer halbfertigen Männerbüste steht ein kleiner Hocker.
Spätestens hier hat man das Gefühl, dass Giacometti und seine Kunst noch immer sehr lebendig sind.