Die Cops sind sich einig: Der purpur-gewandete Typ in der Mitte ist das Problem. Er hat die anderen zur Randale angestiftet und gehört eingebuchtet.
Dumm nur, dass es sich bei besagtem Typ um Jesus handelt und bei der Einschätzung der Polizisten um einen jener voreiligen Schlüsse, die zu vermeiden sie lernen sollen.
Wege der Wahrnehmung
Beibringen will ihnen das Amy Herman. In ihrem Seminar «The Art of Perception» – «Die Kunst der Wahrnehmung» – lässt die Kunsthistorikerin die Teilnehmer Werke alter und neuerer Meister anschauen.
Mit El Grecos «Tempelreinigung» arbeitet sie besonders gern. Das Werk hängt in der New Yorker Frick Collection.
Ein Bild, eine Geschichte
Prächtiges Studienmaterial bietet den Beamten des New Yorker Polizeidepartements (NYPD) wenige Blocks davon entfernt auch das Metropolitan Museum, wo Herman ihre Klienten meistens unterrichtet.
Laut Amy Herman erzählt jedes Bild eine Geschichte, die unterschiedlich interpretiert werden kann. Dasselbe gilt für einen Tatort. Je intensiver man sich mit den Einzelheiten auseinandersetzt, desto mehr gerät der erste Eindruck ins Wanken.
Etwa die Szene auf «Au Lapin Agile» von Pablo Picasso. Da sitzt ein Paar an einer Bar: er in einem auffälligen Harlekinkostüm – sie mit keckem Hut und müdem Blick.
Aber sind die beiden wirklich ein Paar? Welche Stimmung herrscht? Und was ist mit dem Mann mit Gitarre Hintergrund?
Oder James Rosenquists «House on Fire»: Dieses Bild von 1981 zeigt nebeneinander eine volle Einkaufstüte, einen Stahlkessel und eine Reihe von Lippenstiften, die sich wie Kanonen auf den Betrachter richten. Das Ziel hier sei es, so Amy Herman, Ordnung ins Chaos zu bringen und Zusammenhänge herzustellen, wo scheinbar keine bestehen.
Auch das FBI studiert Gemälde
Inwieweit «The Art of Perception» den New Yorker Detectives tatsächlich bei der Aufklärung von Verbrechen hilft, ist schwer zu sagen. Immerhin gehören die Seminare inzwischen zum Lehrplan der New York Police Academy.
Auch das FBI und das amerikanische Verteidigungsministerium haben Amy Hermans Dienste schon beansprucht, ebenso Google und sogar die Credit Suisse.
Bei der Credit Suisse soll die Kunstbetrachtung allerdings die Kommunikationsfähigkeit der Angestellten fördern, keine kriminellen oder kriminalistischen Instinkte.
Bleibt die Frage: Hat das Seminar den einen oder anderen Vertreter der Staatsgewalt dazu animiert, auch in der Freizeit einmal ein Museum zu besuchen? Eher nicht. Die meisten Kursteilnehmer geben an, dafür fehle ihnen die Zeit.