Wer ist der oder die Mächtigste der Kunstwelt im Jahr 2020? Keine Künstlerin oder Künstler, sondern eine Bewegung.
Das britische «Art Review» Magazin katapultierte die Anti-Rassismus-Bewegung Black Lives Matter an die Spitze ihres weltweiten Kunstrankings « Power 100 ». Black Lives Matter habe im Pandemiejahr 2020 zu einem «Paradigmenwechsel in der Kultur geführt», so die Herausgeber.
Aufgerüttelt hat #BlackLivesMatter die Kunstwelt zweifellos: Es wurden Denkmäler gestürzt, Galerien diversifizierten ihre Programme, Museen überdachten, wen sie repräsentierten und schwarze Künstler und Künstlerinnen bekamen eine grössere Plattform.
Noch eine weitere Bewegung hat es in die Top 5 geschafft: #MeToo. Angefangen als Aufschrei gegen sexuelle Belästigung steht #MeToo inzwischen für viele Formen der Diskriminierung der Frauen.
Die Protestbewegung hat in der «Art Review»-Rangliste berühmte feministische Gesellschaft, und zwar von der Vorreiterin der feministischen Theorie, Judith Butler. Sie ist auf Platz 10.
Viele Gruppen in den Top 100 der Kunstwelt
Erstaunlich viele Gruppen hat die Jury in den «Power 100» ausgezeichnet. Prominent sind Bénédicte Savoy und Felwine Sarr und ihre Vision einer neuen, gerechteren Museumskultur auf Platz drei.
Europas Museen sind voll von Raubkunst aus kolonialer Zeit. Deshalb fordern Kunsthistorikerin Savoy und Ökonom Sarr, dass afrikanische Kulturgüter bedingungslos an die ehemaligen Kolonien zurückgegeben werden.
Eine weitere bekannte Gruppe, das Londoner Forschungsinstitut Forensic Architecture, belegt den guten 14. Platz. Sie arbeiten akribisch genau an der Rekonstruktion von Tathergängen. Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen werden dabei von ihnen sorgfältig aufgedeckt.
Trauerspiel für Künstler?
Auffallend ist: Die Jury hat erstaunlich viele Philosophinnen, Soziologen, Historikerinnen auserkoren. Auf der Hand liegt, dass infolge der Corona-Krise viele Galerien dieses Jahr aus dem Ranking herausfielen. Aber wo sind die Künstlerinnen und Künstler?
In den Top Ten des Rankings ist nur ein einziger Künstlername zu finden: Der US-amerikanische Videokünstler Arthur Jafa auf Platz 6. Die erste erwähnte Künstlerin ist die Chilenin Cecilia Vicuña auf Platz 17. Dürfen sich Künstlerinnen und Künstler vernachlässigt fühlen?
«Es gibt keinen Grund für Kunstschaffende zu schmollen», sagt SRF-Kunstjournalistin Alice Henkes. Die Entwicklung sei nicht neu, dass die Mächtigen der Kunstwelt Menschen sind, die über Deutungshoheit oder Geld verfügen – und das sind nicht unbedingt die Künstlerinnen und Künstler.
Von einem «Paradigmenwechsel in der Kultur» zu sprechen, sei deshalb ziemlich dick aufgetragen, findet Henkes. Interessant sei allerdings, dass mit Black Lives Matter eine Bewegung an die Spitze der Kunstmächtigen gesetzt werde, die eben noch auf der Strasse aktiv war und jetzt nolens volens zu den «big heads» der Kultur gezählt wird. Es gilt zu beobachten, ob das der Bewegung Auftrieb gibt oder ob sie dadurch an Glaubwürdigkeit verliert.