Liest man Maria Stepanovas Roman-Essay «Nach dem Gedächtnis», liest man nicht nur ein Buch. Man wird zugleich Zeuge seines Entstehens. Seit sie zehn Jahre alt war, habe sie die Geschichte ihrer Familie aufschreiben wollen, sagt die Autorin. Niemand soll vergessen werden, allen soll Gerechtigkeit widerfahren. So der Anspruch, an dem sie schreibend fortwährend scheitert.
Doch gerade in diesem Scheitern befördert sie ungeheuer viel zu Tage. Wir schauen Maria Stepanova dabei zu, wie sie recherchiert, Gespräche führt und Bücher von anderen liest, denen es gelingt, «auf dem Territorium der Vergangenheit zu arbeiten».
Erinnerungen an Leid
Mit Stepanovas Buch betreten wir die «Bahnhofshalle der kollektiven Erfahrung». Im Zentrum steht die Erfahrung des unermesslichen Leids, das den Russen, besonders den Juden unter ihnen, über Generationen hinweg widerfahren ist.
Auch dann, wenn sie keine Protagonisten, sondern nur «Untermieter» der Geschichte waren. Von den beiden Weltkriegen, dem Holocaust oder Stalins grossem Terror blieb Stepanovas Familie weitgehend verschont. Und doch erzählt dieses Buch über weite Strecken von nichts anderem.
Wir lesen, wie ihre wohlhabenden Urgrosseltern in der Revolution alles verlieren, Stepanova erzählt uns von der Leningrader Blockade durch die Berichte von Lidia Ginsburg, wir hören von der Hungersnot der Zwangskollektivierung, dem Überlebenskampf der Deportierten. Man liest atemlos – und staunt, wie wenig einem diese Dinge bisher ins Bewusstsein gedrungen sind.
Doch «Nach dem Gedächtnis» ist kein Erinnerungsbuch, sondern ein Buch über das Erinnern. Wem gehört die Vergangenheit? «Der Vorwurf der Ausbeutung hängt über den Feldern der Erinnerung», heisst es. So erlaubt der Vater der Autorin ihr nicht, in ihrem Buch seine Briefe aus den 1960er-Jahren zu zitieren.
Verschwommene Vergangenheit
Nach der ersten Irritation versteht sie, wie unzuverlässig diese Dokumente sind: Ihr Vater hatte den Arbeitseinsatz im fernen Kasachstan für die Angehörigen geschönt, der Ton stimmte nicht mehr. Doch wie kann sich die Vergangenheit erschliessen, wenn sie nicht einmal die Zeitzeugen bewahrt haben?
Man kann dieses Buch nicht konsumieren. Es behandelt seine Leserinnen und Leser als Gesprächspartner, so wie Ossip Mandelstam es einst in einem Buchtitel gefordert hat.
Die Autorin lässt uns mit ihrem in alle Richtungen auseinanderstrebenden Text nicht allein. Dass man sich unmittelbar angesprochen fühlt, liegt an der lebendigen Sprache.
Brüder des Alltags
Als Lyrikerin nimmt Stepanova die Wörter in die Hand, bestaunt sie und macht aus ihnen etwas Neues. Feiertage etwa sind «die ungleichen Brüder des Alltags», wir tauchen ab «in die Unterwasserhöhlen der Vergangenheit», wo wir auf Überlebende treffen, «die unter dem ausgeweideten 20. Jahrhundert hervorgekrochen sind».
Olga Radetzkaja hat dieses ungewöhnliche Buch mit Fantasie und Sorgfalt so übersetzt, dass wir beim Lesen einem vielstimmigen Gespräch zuhören: Die russisch-jüdischen Welten, Köpfe und Bücher, die Maria Stepanova in ihrer Bahnhofshalle versammelt, sind über Zeiten und Räume hinweg miteinander im Austausch.